So war die letzte Sendung «Anne Will» wollte das «grosse Lagerfeuer der Nation» sein

Michael Angele

4.12.2023

Letzte Ausgabe von «Anne Will»: «Danke, danke, danke»

Letzte Ausgabe von «Anne Will»: «Danke, danke, danke»

«Danke, danke, danke»: Anne Will hat nach 16 Jahren die letzte Ausgabe ihrer gleichnamigen ARD-Talk-Show moderiert.

04.12.2023

Seit der ersten Sendungen gab es eher lautes Genörgel und eher leises Lob: Nach 552 Sendungen hat Anne Will nun zum letzten Mal ihre Polit-Talkshow moderiert. Was bleibt von 16 Jahren in Erinnerung?

Michael Angele

4.12.2023

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Anne Will präsentierte 16 Jahre lang den Polit-Talk im öffentlich-rechtlichen Ersten Deutschen Fernsehen der ARD.
  • Gestern Abend hat sie ihre Sendung zum letzten Mal moderiert.
  • Was bleibt – ausser Botox, lautem Genörgel und leisem Lob – von einer der bekanntesten Polit-Journalistinnen im deutschsprachigen Raum?

Die Titel der Sendungen waren schon immer ziemlich wurst: «Die Welt in Unordnung. Kann Deutschland aufräumen?»

So oder so ähnlich lautete er bei dieser letzten Sendung von «Anne Will». Immerhin die Zusammenstellung der Gäste war mutig, so hätte ich mir das immer gewünscht.

Ein wortmächtiger und wichtiger Politiker: Robert Habeck. Ein wortmächtiger, kluger Schriftsteller: Navid Kermani. Eine wortmächtige, geerdete Politikwissenschaftlerin: Florence Gaub. Und ein wortmächtiger und nachdenklicher Historiker, Schweizer dazu: Raphael Gross, Präsident des Historischen Museums in Berlin, der nebenbei gesagt wahnsinnig spannende Ausstellungen macht.

Okay, über die Zusammenstellung der Gäste wurde oft gemäkelt. Die üblichen Verdächtigen seien es, der Berliner Politbetrieb eben. Wahr ist aber auch: Das Publikum will den Wiedererkennungseffekt; wer unvertraute Gesichter bringt, wird bestraft.

Kasperlitheater als Erfolgsrezept

Der Fernsehkritiker Friedrich Küppersbusch hat die ungeschriebenen Gesetze der Polit-Talkshow einmal mit dem Kasperlitheater verglichen: Hänsel und Gretel, der Zauberer, das Krokodil. Hänsel und Gretel waren früher bekannte Gesichter aus CDU und SPD, heute auch mal der Grünen und der FDP. Der Zauberer ist der Experte, das Krokodil hat eine abweichende Meinung. Bei «Anne Will» sah es oft aus wie Sarah Wagenknecht.

Wer nicht Kasperlitheater machen will, opfert an die Quote. Die Quote war in dieser letzten Sendung egal, weil sie eh gut sein würde. Das Thema waren die beiden Kriege in der Ukraine und in Israel und Gaza. Raphael Gross lieferte die Erkenntnis des Abends: Wir hängen mehr am Konflikt als an seiner Lösung.

So wahr. Dennoch fehlte mir ein Vertreter, der die geopolitischen Verwerfungen im Blick hat. Aber das ist Genörgel, gab es immer schon, seit der ersten Folge von «Anne Will» am 16. September 2007. «Die Diskussion entwickelte sich einfach nicht weiter», schrieb die «Financial Times Deutschland» damals. «Im Fernsehstudio jedenfalls machte sich bleierne Müdigkeit breit», konstatierte die Süddeutsche Zeitung.

Begonnen hatte das Genörgel mit der Vorgängerin von Anne Will. Das Buch «Meine Sonntage mit Sabine Christiansen. Wie das Palaver uns regiert» wurde ein Besteller. Als hätte man die Hölle in Dantes Inferno betreten: Inkompetente Moderatorin, ehemalige Stewardess, trifft auf Politiker, die in Gemeinplätzen sprechen, Palaver eben. Palaver war für viele dann auch «Anne Will».

Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Für die erste Sendung gab es auch Lob. «Will zeigt, dass sie ein Vollprofi ist», schrieb der «Berliner Kurier». Das Lob kam eher von den kleinen Zeitungen. Und so blieb das all die Jahre mit Anne Will: Gemäkel eher laut, Lob eher im stillen Kämmerchen.

Was bleibt von «Anne Will»?

Die Vorgeschichte. Anne Will, die vom Radio kam und dann als erste Frau die «Sportschau» moderiert hatte.

Anne Will als Gesicht der Merkeljahre: So wie Angela Merkel damals Friedrich Merz ausmanövriert hat, um Parteivorsitzende der CDU zu werden, so ist Anne Will die Frau, die Günter Jauch ausgestochen hat. Mit der Kanzlerin gab es gleich mehrere Solosendungen: Da hatten sich zwei Gleichtickende getroffen.

Das Botoxing der Anne Will, über das wahnsinnig viel getratscht und kaum geschrieben wurde.

Und natürlich das Ende der letzte Sendung: «Danke für 16 Jahre Aufklärung», sagte Habeck.

Kritik jenseits des Genörgels

Gern hätte ich mir einen Überblick über die Gäste in den vergangenen 552 Sendungen verschafft. Gab es ausser Raphael Gross weitere Schweizer? War Peter Altmeier der häufigste Gast der letzten zehn Jahre, oder doch Wolfgang Bosbach? Und wie war das Verhältnis von Männern und Frauen?

Meine Anfrage an die Pressedame wurde abgewiesen: Die Redaktion sei jetzt in der Vorbereitung der Sendung. Für Anne Will arbeiten sage und schreibe 20 Redakteure und Redakteurinnen. Was machen die alle? Man las es nicht oft: Aber Anne Will stand auch für einen aufgeblasenen öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Denn es gibt eine Kritik jenseits des Genörgels, die auf strukturelle Probleme zielt.

Da ist das grosse Versagen in der Corona-Krise. Anne Will wollte die Debatten der Zeit führen, scheute aber die Auseinandersetzung mit den radikalen, freilich populären Kritikern der Corona-Politik. Die Folge: Das Vertrauen in die «Mainstreammedien» nahm weiter ab.

«Anne Will» wollte das «grosse Lagerfeuer der Nation» werden; ja, sie war die meistgeschaute deutsche Politsendung. Und doch war es eine Minderheitensendung. Durchschnittlich 3,6 Millionen Zuschauer schalteten ein. Und schon 2012 lag der Altersdurchschnitt der Zuschauer bei 63 Jahren. Man muss nicht dem Jugendwahn verfallen sein, um zu sehen, dass das auf Dauer nicht gut gehen kann.

Denn da ist das Ende des analogen Fernsehens. Da beisst die Maus keinen Faden ab, da kann auf Anne Will eine Moderatorin folgen, die das gleiche unaufgeregt-spöttische Lächeln noch so auf den Lippen hat wie sie. Es wird auf Dauer nicht reichen, um die politische Talkshow neu zu beleben. Dabei bräuchte es dringend neue mediale Formate, in denen die Gesellschaft sich streiten sieht. Blasen haben wir genug.