Interview Joaquin Phoenix: «Mir ist nicht ganz klar, was real ist und was nicht»

Von Marlène von Arx, Los Angeles

10.10.2019

Joaquin Phoenix kommt heute mit «Joker» in die Kinos – eine Charakterstudie, die es in sich hat. «Bluewin» hat mit dem Schauspieler über die Verwandlung in den anarchistischen Bösewicht gesprochen.

Kritiker und Publikum sind sich einig: Was Joaquin Phoenix in «Joker» abliefert, ist eine schauspielerische Meisterleistung. Im Interview erklärt der Hollywoodstar, der in zwei Wochen seinen 45. Geburtstag feiert, wie er sich in die komplexe Figur hinter der Clown-Maske verwandelte, was er an ihr abstossend findet und warum er seinen verstorbenen Bruder River für seine Karriere verantwortlich macht.

Jack Nicholson erhielt für die Joker-Rolle eine Golden-Globe-Nomination und Heath Ledger wurde für seine Verkörperung posthum mit einem Oscar geehrt. Haben die beiden Performances auf Sie gefärbt?

Nein, ich habe beide Filme gesehen, als sie ursprünglich ins Kino kamen, aber seither nicht mehr. Wir wollten unseren eigenen Film machen, der weder zu früheren Interpretationen noch zum Comic eine Verbindung hatte. Und ich versuchte, die Figur so gut wie möglich in der Realität zu verankern.

Wie ging die Verwandlung vor sich?

Das Lachen war der Ausgangspunkt. Regisseur Todd Phillips hat mir Videos von Menschen gezeigt, die unkontrollierbare Lachanfälle haben – noch bevor ich ein Drehbuch gelesen hatte. Vier Monate vor dem Dreh fing der Prozess an, zwei Monate davor habe ich mit einem Choreografen auch noch die Bewegungen näher angeschaut. Normalerweise tausche ich bei der Arbeit ausser mit dem Regisseur mit niemandem gerne Ideen aus, aber Michael Arnold hat mich wirklich in das Vokabular des Tanzens und der Bewegung eingeführt. Wir drehten bereits sieben Wochen, als ich zum ersten Mal das Make-up trug. Ich weiss nicht genau, wie es passierte, aber alles zusammen ergab dann den Joker.



Sie haben für die Rolle 23 Kilo abgenommen. Wie hat Sie das beeinflusst?

Es beeinflusst die Bewegungen. Man fühlt sich leichter und irgendwie stärker, weil man die Kontrolle über seinen Körper hat und Meister über seine Impulse ist. Andererseits fühlte ich mich aber auch physisch schwächer: Ich verlor Muskelmasse und wurde verletzungsanfälliger. Das sind alles Elemente, auf die man dann reagiert. Und das ist es letztlich, was ich brauche: etwas Spürbares, was die Figur betrifft. Es soll nicht alles aus dem Kopf kommen oder auf Nachforschungen basieren. Ein Teil muss auch experimentell sein.

Was haben Sie als Erstes nach der Diät gegessen?

Ich kann mich nicht erinnern. Vermutlich war es etwas am Flughafen. Vor der Diät habe ich noch eine Weile einfach gefuttert, wozu ich Lust hatte. Bald würde ich ja auf vieles verzichten müssen. Als ich dann mit der Diät anfing, hatte ich vier Kilo zugenommen – so bescheuert!

Wann wussten Sie, dass Sie den Joker/Arthur Fleck im Griff hatten?

Das Gefühl habe ich bis heute nicht. Jedes Mal, wenn ich das Gefühl hatte, seine Motivation zu verstehen, war irgendwie die Luft wieder raus. Aber es hatte auch etwas Aufregendes, die Motivation nicht zu verstehen. Und übrigens: Mir ist auch nicht zu hundert Prozent klar, was im Film real ist und was nicht.

Das muss ja nicht schlecht sein …

Nein, ich mag das sogar. Vielleicht wollte ich es auch nicht genau wissen ... [überlegt] Nein, das stimmt nicht. Als Schauspieler ist es Teil meines Jobs, die Motivation zu verstehen. Aber wir verstehen uns ja selber auch nicht immer. Die menschliche Psychologie ist sehr komplex.

Passiert Ihnen das öfters, dass Sie eine Figur nicht verstehen?

Ich muss nicht immer alle Antworten haben, aber so drastisch wie bei dieser Rolle, war es noch nie.

Arthur wird an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Sie sind in einer Hippie-Familie aufgewachsen. Fühlten Sie sich je als Aussenseiter?

Nein, ich fühlte mich nie ausgegrenzt. Und so beschrieben klingt Arthur fast sympathisch. Das verstehe ich auch und ich sympathisiere auch mit ihm, aber ich finde ihn auch abscheulich. Man hat schliesslich auch eine Verantwortung. Schon von Anfang an ist er nicht einfach unschuldig: Er ist ein klassischer Narzisst. Er will gehört und angehimmelt werden. Ich finde das abstossend und glaube nicht, dass alles okay gewesen wäre, wenn die Leute ihn nur netter behandelt hätten.

Wie haben Sie die Leute um Sie herum, Ihre Familie, Ihre Verlobte Rooney Mara, während des Drehs wahrgenommen?

Ich war ziemlich isoliert, denn Sie können sich nicht vorstellen, wie stark Essen und Trinken ein Teil des sozialen Umfeldes ist. Und da durfte ich ja nicht mitmachen. Ehrlich gesagt, mische ich mich während Filmdrehs generell nicht unter die Leute. Die Filmcrew wird zum sozialen Umfeld und der Film zu meinem Leben. Aber das geht anderen auch so. Meine Freunde, die Schauspieler sind, reden auch von nichts anderem, wenn sie arbeiten. Das ist mühsam für Leute, die nicht am Projekt beteiligt sind. Das will ich niemandem zumuten.

Arthur/Joker ist seiner Mutter sehr nahe. Wie einflussreich ist Ihre Mutter in Ihrem Leben?

Meine Mutter ist wohl die Person in meinem Leben, die mich am meisten beeinflusst und inspiriert hat. Sie ist wirklich eine unglaubliche Frau: Während ich mich an Filmfestivals tummle und die Welt verändere [grinst] tut sie das wirklich: in Osteuropa mit ihrer Non-Profit-Organisation, die nach meinem Bruder benannt ist. Das «River Phoenix Center for Peacebuilding» lehrt unter anderem gewaltfreie Kommunikation und «Restorative Justice» (Alternative zum Strafvollzug, Anm. d. Redaktion). Sie ist 75 und hat ihr Leben dieser Organisation gewidmet und bewegt etwas.

Ihr verstorbener Bruder River Phoenix gab Ihnen einst den Film «Raging Bull» zum Anschauen und überzeugte Sie, die Schauspielerei nicht aufzugeben. Warum zweifelten Sie damals an Ihrer Zukunft in Hollywood?

Ich hatte damals die Schauspielerei für eine Weile aufgegeben. Die Rollen, die zur Verfügung standen, waren nicht sehr inspirierend. Für Jugendliche gab es nicht viel mit Substanz. Ich wollte halt keine Kinderfilme machen. Aber er sagte, du kniest dich da jetzt rein und prognostizierte mir eine tolle Zukunft. Meine Mutter und ich sahen uns nur an – wir hatten keine Ahnung, wie er darauf kam. Aber ich erinnere mich, dass mir das Selbstvertrauen gab, weiterzumachen.

«Joker» läuft ab 10. Oktober in unseren Kinos.

Die Kino-Highlights im Oktober
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