«Tatort»-Check Primarschüler, die Angst und Schrecken verbreiten – gibt es sie wirklich?

tsch

8.5.2022

Im «Tatort: Marlon» stirbt ein Neunjähriger, nachdem er die Treppe hinuntergestossen wurde. Was die Ermittlerinnen schockiert: Viele wirken erleichtert, dass er nicht mehr da ist. Gibt es wirklich schon an Primarschulen «unkontrollierbare» Schüler?

tsch

8.5.2022

An einer Grundschule (hierzulande Primarschule) in Ludwigshafen geht die Angst vor einem Neunjährigen um. Marlon, eigentlich aus unauffällig bürgerlichem Elternhaus, greift Mitschüler und Erwachsene an, seine Gewaltausbrüche sind heftig und oft schwer vorherzusehen.

Spätestens seit dem deutschen Oscar-Bewerber «Systemsprenger» von 2020 kennt man diese Thematik auch im Film. Der SWR machte nun einen Krimi daraus. Doch nimmt Schulgewalt tatsächlich zu? Und sind auch schon die Kleinsten davon betroffen? – Wir beantworten die wichtigsten Fragen zum «Tatort: Marlon».

Worum ging es?

Marlon (Lucas Herzog) hat beim Schulfest eigentlich Hausverbot, woran er sich aber nicht hält. Mit wild entschlossenem Blick stapft der Junge an diesem Tag auf den Schulhof, wenig später liegt er tot am Fuss einer Treppe. Niemand hat etwas gesehen. Mit zwei Kindern, Madita (Hanna Lazarakopoulos) und Pit (Finn Lehmann), hatte der tote Junge am meisten zu tun. Das Binnenverhältnis des Trios schwankte zwischen Freund- und Feindschaft.

Maditas Vater (Urs Jucker) berichtet, dass seine Tochter von Marlon gemobbt wurde. Auch der Hausmeister und die Lehrkräfte hatten es schwer mit dem Jungen, dessen Eltern (Julischka Eichel, Markus Lerch) über die Jahre mit dem chronischen Problemkind mürbe geworden sind. «Wir hatten ja nicht mal eine Diagnose», erzählt Marlons resignierte Mutter den Ermittlerinnen Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) und Johanna Stern (Lisa Bitter).

Worum ging es wirklich?

Auch wenn am Ende des «Tatorts» ein – ebenso unglücklicher wie unfreiwilliger – Täter gefunden wurde, die eigentliche Frage des Ludwigshafen-Krimis blieb ungelöst: Was erzeugt in einem Neunjährigen so viel Gewaltpotenzial, dass Pädagogen, Eltern und Mitschüler an ihm verzweifeln? Gut, dass Drehbuchautorin Karlotta Ehrenberg («Besuch für Emma») und Regisseurin Isabel Braak («Tatort: Rettung so nah») auf übliche Muster (Gewalt in der Familie, gescheiterte Integration etc.) verzichteten und die Wut des Jungen nicht «durcherklärten».

Der emotionalen Wucht des Films tat dies gut. Die Bezüge des Schuldramas zu privaten Geschichten der Ermittlerinnen wie auch die von Ludwig Trepte etwas zu fuchtelig interpretierte Rolle des engagierten Sozialarbeiters wirkten hingegen ein wenig zu dick aufgetragen.

Sind Primarschulen bereits von Gewalt betroffen?

2020 veröffentlichte das Meinungsforschungsinstitut Forsa eine interessante Studie für Deutschland. Es wurde nach Schulformen aufgeschlüsselt, inwieweit Lehrkräfte über die letzten fünf Jahre Erfahrungen mit «Gewalt oder Diffamierung» gemacht hatten. Die Angriffe wurden in drei Kategorien unterteilt: körperliche Gewalt, Diffamierung über das Internet und verbale Gewalt.

Bei den «körperlichen Angriffen» belegten Grundschulen, das deutsche Äquivalent zu den Primarschulen, erstaunlicherweise den ersten Platz (40 Prozent der Schulen benannten solche Fälle). Erst deutlich dahinter folgten Haupt-, Real- und Gesamtschulen (21 Prozent) und Gymnasien (acht Prozent). Bei der «verbalen Gewalt» kamen Grundschulen auf Platz zwei (57 Prozent) hinter den Haupt-, Real- und Gesamtschulen (73 Prozent).

Nur in Sachen Internetdelikte lagen die Grundschulen mit 20 Prozent hinten. Vermutlich deshalb, weil viele Kinder in diesem Alter noch ohne Handy und Computer unterwegs sind. Gewalt an Primarschulen scheint also durchaus ein Thema zu sein – auch wenn Kritiker anmerken, dass unsere gesellschaftliche Sensibilität für Gewalt an der Schule gegenüber früher deutlich gestiegen und deshalb leichter «messbar» sei.

Wie verbreitet ist Schulgewalt in der Schweiz?

Im Mai 2021 veröffentlichte das Uno-Kinderhilfswerk eine Studie, die für Aufsehen sorgte. Demnach erlebe ein Drittel der Schweizer Kinder und Jugendlichen physische Gewalt, zwei von fünf berichten von psychischer Gewalt. 15 Prozent der Schüler gaben an, sich «mittelmässig» oder «gar nicht» sicher zu fühlen in der Schule. Im Internet betrug dieser Anteil sogar 32 Prozent. Unicef befragte zusammen mit dem Institut für Soziale Arbeit und Räume der Ostschweizer Fachhochschule (OST) über 1'700 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 9 und 17 Jahren.

Wie geht es beim Ludwigshafener «Tatort» weiter?

Vor knapp einem Jahr wurde der 75. Ludwigshafener «Tatort» gedreht, der als nächstes ausgestrahlt wird. «Das Verhör» zeigt Götz Otto, der schon im jüngsten Franken-«Tatort: Warum» zu sehen war, im Psycho-Duell mit Ulrike Folkerts und Lisa Bitter. In dem Krimi, der voraussichtlich im Herbst 2022 zu sehen sein wird, wird eine Investmentbankerin grausam getötet.

Der erste Verdacht fällt auf ihren Ex-Ehemann, dem sie häusliche Gewalt vorgeworfen hatte. Der allerdings präsentiert den Kommissarinnen Lena Odenthal und Johanna Stern ein gut bezeugtes Alibi. Indizien vom Fundort der Leiche führen die Ermittlerinnen schliesslich zu einem Soldaten der Bundeswehr. Lena Odenthal ist überzeugt, dass in der Psyche des Verdächtigen ein tiefsitzender Frauenhass verborgen ist.