Filmserie (6)Das Normalste der Welt – und unglaublich kompliziert
sda
22.12.2022 - 08:01
Kontrovers oder das normalste der Welt? In seinem 1999er Drama «No coffee, no TV, no sex» gibt der Schweizer Regisseur Romed Wyder Einblick in eine Dreierbeziehung, ohne sich in deren Entscheidungen einzumischen.
Keystone-SDA, sda
22.12.2022, 08:01
SDA
Sex vor der Ehe ist schon lange nicht mehr kontrovers. Die Genfer Hausbesetzerszene war in den späten 90er kontrovers. Scheinehen zwecks Aufenthaltsgenehmigung sind nach wie vor kontrovers. In der Genfer Hausbesetzerszene der späten 90er waren Scheinehen zwecks Aufenthaltsgenehmigung genau so wenig kontrovers, wie Sex vor der Scheinehe. Sex vor der Scheinehe mit der Freundin des besten Freundes, das war auch in der Genfer Hausbesetzerszene der späten 90er kontrovers.
Klingt kompliziert? Ist es auch. Und zugleich ist es das Normalste der Welt. In Romed Wyders Film «No coffee, no TV, no sex» (1999) bittet der Franzose Maurizio seinen besten Freund, den Schweizer Arno, seine französische Freundin, Nina, zu heiraten, damit diese in der Schweiz leben und arbeiten kann. Das ist ein sehr einfacher Plan, und bis 2005 war es sogar straffrei.
Doch: Arno verliebt sich in Nina (das Normalste von der Welt). Nina verliebt sich in Arno (das Normalste der Welt). Arno und Nina haben Sex (das Normalste der Welt). Maurizio wird wütend, Nina ist zwischen den zwei Männern hin und her gerissen und Arno leidet am Konflikt zwischen seinen Gefühlen für Nina und seiner Freundschaft mit Maurizio. Das Normalste der Welt; und unglaublich kompliziert.
Jeder liebt beide
Maurizio hat ein Jahr in Paris gelebt und will jetzt mit Nina wieder in seine alte Wohnung ziehen, die er damals selber renoviert hat. Aber in der basisdemokratisch organisierten Hausbesetzerszene gibt es keine vorgefertigten Antworten auf existenzielle Fragen. Entscheidungen werden im Kollektiv ausgehandelt und es wird abgestimmt.
So wird entscheiden, dass nicht Maurizio und Nina, sondern die Georgierin Käthevan und ihre kranke Tochter (für deren Behandlung sie nach Genf gekommen sind) das Zimmer bekommen. Nina und Maurizio wird ein Zimmer in einer alten Villa ohne fliessend Wasser zugewiesen. Auch für das Trilemma, in dem sich die drei Hauptfiguren wiederfinden, liegen keine einfachen Antworten parat.
Jeder von ihnen liebt beide anderen, und das geht nicht auf. Niemand kann ihnen sagen, was richtig ist und was falsch. Jeder muss für sich selber herausfinden, was sie oder er eigentlich will und (noch viel komplizierter) sie müssen gemeinsam aushandeln, was sie alle drei wollen. Arnos Mitbewohnerin Alice hält sich raus und verfolgt das Spektakel amüsiert und liebevoll aus der Nähe mit.
Raum zum Atmen
Wyders Erzählstil beeindruckt durch Zurückhaltung. Auch er hält sich aus der Sache raus und überlässt seine Figuren sich selbst. Keine Plot-Twists und keine glücklichen Zufälle schickt er ihnen zur Hilfe. Wir verfolgen mit, wie sie ihre Geschichte selbst schreiben. Das natürliche Spiel der drei kaum bekannten Darstellenden trägt zur der intimen Atmosphäre des Films genauso bei, wie dass die Szenen in Arnos Wohnung, in einem tatsächlichen «Squat», einem besetzten Haus, gedreht wurden.
Wyder und sein Ensemble schaffen es, uns vergessen zu lassen, dass wir uns eine ausgedachte Geschichte anschauen. Es wirkt eher so, als sei einfach immer irgendwie eine Kamera dabei gewesen. Dass die Sets für den Film etwas nachgehübscht wurden, merkt man erst, wenn man sie mit den Aufnahmen aus Wyders Dokumentarfilm «Squatters» (1995) vergleicht.
Wyder gibt seinen Figuren und deren Geschichte auch dadurch so viel Raum zum atmen, dass er darauf verzichtet, mit seinem Film eine Aussage zu machen. Das ist besonders beachtlich, weil die Themen förmlich dazu einladen, Antworten zu geben. Was sind denn nun die richtigen Entscheidungen? Und welche sind falsch und wieso?
Macho, Schlufi und Tüpfi
Die Figuren laden zu einer kritischen Reflexion über Geschlechterrollen ein: So alternativ bis revolutionär sich die Drei auch fühlen und geben, Maurizio ist ein Macho, Arno ein Schlufi und Nina ein Tüpfi, wie sie in einem Lexikon der traditionellen Stereotype stehen könnten.
Ausserdem provoziert das Setting politische Statements: Die Wohnraumknappheit in der wohlhabenden Schweiz (in Arnos Wohnung hängen Zeitungsschlagzeilen wie «Squatters: demandeurs de logements ou militants?"). Einer Schweiz, die so reich ist, dass sie Arbeitssuchende (Nina) wie Hilfesuchende (Käthevan) anzieht, die dann aber auf sich selbst gestellt im rechtlichen oder existenziellen Graubereich durchkommen müssen.
Ganz bestimmt hat Wyder Meinungen zu diesen Themen. Dem Film kommt es aber zugute und macht ihn auch nicht weniger mutig, dass er sich zurückhält. Ist es nicht viel gewagter zu zeigen, wie kompliziert es ist, die richtige Entscheidung zu treffen, als seine eigene Meinung einfach heraus zu posaunen? Wyder traut uns zu, dass wir die Figuren am Ende verstehen werden, auch wenn wir sie vielleicht nicht mögen, oder finden, dass sie Fehler gemacht haben. Und Arno, Maurizio und Nina trauen einander zu, dass sie am Ende die richtige Entscheidung treffen werden, auch wenn das nicht immer einfach ist.
Aber zahlt sich ihr Vertrauen aus? Entscheiden sie richtig? Kurz: Gibt es ein Happy End? Ja. Wie das Happy End so einer Geschichte aussieht, wer wen und wieso genau heiratet, will hier nicht verraten sein.
Aber der Film endet in einer ausgelassenen Hochzeitszeremonie auf dem (in Frankreich liegenden) Genfer Hausberg Mont Salève. Braut in weiss, Bräutigam im Frack. Das Normalste der Welt. Der Priester wird gespielt von Greta Gratos, eine kosmische Schlampe, Feenkönigin, Hexe, weder Frau noch Transvestit, eine Kunstfigur des Schauspielers Pierandré Boo. Kontrovers?
*Dieser Text von Gino Margani, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.
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