TV-Kritik «Das Wort zum Sonntag»: Gott ist halbtot

Von Gion Mathias Cavelty

18.10.2020

«Wann spricht endlich Gott live im Schweizer Fernsehen?», fragt sich TV-Experte Gion Mathias Cavelty.

Eine der drängendsten Fragen der Menschheit lautet seit jeher: Wie kann Gott das zulassen? Zum Beispiel die erste Welle der Corona-Pandemie. Oder die zweite Welle der Corona-Pandemie. Oder die dritte Welle der ... Oder dass die Sendung «52 beste Bücher» auf SRF 2 Kultur gestrichen wurde. Leider hat bisher noch keiner eine überzeugende Antwort gefunden. Es wäre langsam an der Zeit, finde ich. Bevor die ganze Welt den Bach hinuntergegangen ist.

Apropos streichen: Auch die sich mit Glaubensfragen auseinandersetzenden Radiosendungen «Zwischenhalt» und «Blickpunkt Religion» sind aus dem SRF-Programm gekippt worden (Schlagzeile dazu aus der Boulevard-Presse: «Wegen Wappler ist der Teufel los»).

Ist Gott also tot (wie der Philosophen Friedrich Nietzsche es formulierte)?

Offenbar noch nicht ganz! Denn jüngst liess das Schweizer Fernsehen verlauten, dass das seit über 60 Jahren ausgestrahlte «Wort zum Sonntag» ab dem 17. Oktober mit einem neuen Team von Theologinnen und Theologen auf Sendung gehen werde.

«Das Wort zum Sonntag» – vielleicht kann es dem Zuschauer anno 2020 ja tatsächlich substantielle spirituelle Hilfe bieten. Und vielleicht sogar die letzten, die grossen, die ewigen Fragen beantworten.

Mit weit geöffnetem Herzen schalte ich am Samstagabend um 20:00 Uhr also SRF 1 ein.

Die erste der fünf neu verpflichteten Theolog*innen erscheint am Bildschirm – die evangelisch-reformierte Pfarrerin Chatrina Gaudenz, geboren 1972 im rätoromanischen Lavin. Mit sehr pastoraler Stimme stellt sie die Eingangsfrage: «Wie chömmed Sie zur Rueh, liebi Zuschauerin, liebe Zueschauer?»

Hm? Habe ich gerade richtig gehört? Wie man zur Ruhe kommt? In einer Zeit, in der eh schon mehr stillsteht, als einem lieb sein kann? In der viele Menschen zum Däumchendrehen verurteilt sind, weil sie nicht mehr ihrem normalen (Arbeits-)Alltag nachgehen können? Untätig herumhocken müssen? Vereinsamen?

Tatsächlich: Auch in den nächsten Minuten geht es ums Zur-Ruhe-Kommen respektive Nicht-zur-Ruhe-kommen-Können: «Vum Aafang vum Läbe bis zu sinem Endi werdemer überflueted vu Grüsch», beklagt sich Frau Gaudenz, «Maschine, Apparat, Mobiltelefon (...) Au ufem schöne Piz Mezdi saust mir es Flugzüg über de Chopf.»

Läck Bobby! Ich wäre froh, wieder mal so ein richtig lautes Mobiltelefon hören zu dürfen. Und wie ich hier in Schwamendingen den Flugzeuglärm vermisse! Flugzeuglärm war für mich immer das Synonym von Leben.

Frau Gaudenz beklagt sich im Folgenden indes über eine Zugfahrt von Landquart nach Zürich vor einer Woche, während der sie in einem gut gefüllten Abteil gesessen sei, in dem es «piepst, brummt, plauderet und gschwätzt» habe; «Kei Ort vo dr Rueh. Aber was söll's – das isch jetz emol üsers Läbe hüt.»

Schön wär's, wenn das unser Leben heute wäre!

Des Weiteren kommt die Pfarrerin auf den Propheten Jesaia zu sprechen, der «vor meh als 2000 Johr» dem Volk Israel mitten im Chaos zugerufen habe: «I de Rueh und im Vertraue steckt euri Kraft!»

Hm – vor 2000 Jahren gab es doch noch gar keine Handys und Flugzeuge und überfüllte Zugwaggons ... Ist doch schön, wenn die Menschen piepsen, brummen, plaudern und schwatzen und nicht komplett depressiv werden.

Gaudenz, auf der Zielgeraden: Auch mit Maske vor dem Gesicht und in einem überfüllten Zug könne man seine Hand aufs Herz legen, einatmen, ausatmen, aufatmen und sich auf Gott ausrichten, «lose und warte». Und dann die Herausforderungen anpacken, die auf einen warten. «Ich wünsch Ihne en schöne Sunntig mitenand.»

Und das war's auch schon mit der ersten Ausgabe des neuen «Worts zum Sonntag».

Ruhe? Ruhe soll die Antwort sein? Ruhe kann SRF gratis haben! Mit der äusserst kostengünstigen Sendung «Gott spricht (live)». Dazu genügt ein leeres Studio und ein leerer Stuhl.

Amen.

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