TV-Kritik «Die Aufseherin und der Häftling» – Liebe ist ... dem andern die Tür aufzuhalten

Von Gion Mathias Cavelty

19.3.2021

«Die rosarote Brille aufsetzen und geniessen», empfiehlt TV-Experte Gion Mathias Cavelty. Wer hingegen auf ernsthaften Erkenntnisgewinn hofft, wird enttäuscht.

Von Gion Mathias Cavelty

19.3.2021

Ich wollte endlich wieder einmal wahre Liebe im Fernsehen sehen, und deshalb habe ich mir am Donnerstagabend den Dokumentarfilm «Die Aufseherin und der Häftling – Liebesflucht aus dem Gefängnis» von Rolando Colla auf SRF1 angeschaut.

Das Schweizer Fernsehen hat darum im Vorfeld ein riesiges Tamtam gemacht – kein Journalist durfte sich das Werk (das übrigens ursprünglich bereits im letzten Juni hätte ausgestrahlt werden sollen) vorab ansehen. Es musste also ordentlich Zündstoff enthalten.

Wahre Liebe, kein verlogener Käse

Aber ganz ehrlich: Zündstoff interessierte mich nicht die Bohne! Das Einzige, was mich interessierte, war wie gesagt die LIEBE – die WAHRE LIEBE. Denn was einem im TV immer als wahre Liebe verkauft wird, ist es ja nie. Verlogener Käse à la Rosamunde Pilcher oder «Der Bachelor» und das sonstige inszenierte Zeug haben mit wahrer Liebe gar nichts zu tun.

Hat man überhaupt schon einmal wahre Liebe im Fernsehen gesehen? Höchstens wahre Selbstverliebtheit der immergleichen Narzissten.

Nun hoffte ich also auf Gefängniswärterin Angela Magdici und Häftling Hassan Kiko. Frau Magdici hat den mehrfach verurteilten syrischen Sexualstraftäter Kiko ja anno 2016 aus seiner Zelle in der Haftanstalt Limmattal gelassen (aus WAHRER LIEBE), und gemeinsam sind sie getürmt und nach fünf Wochen schliesslich in Norditalien verhaftet worden.



«Seid ihr noch zusammen?», lautet jeweils die grosse Frage an das neue Traumpärchen in diesen berüchtigten Wiederbegegnungsshows, nachdem wieder einmal eine Staffel irgendeiner Liebesshow zu Ende gegangen ist. Genauso sicher, wie die Antwort JA ist (unterstrichen von einem innigen Kuss), wird zwei Wochen später die Trennung der beiden gerade noch Schwerstverliebten bekannt gegeben.

Immer noch verliebt

Wie sieht es im Fall von Angela und Hassan aus? JA: SIE SIND NOCH ZUSAMMEN! Den Beweis durften sie gestern vor laufender Kamera antreten, indem sie sich – raten Sie mal! – einen innigen Kuss gaben. Angela: «Ich bin immer noch in ihn verliebt! Also, ich liebe ihn sehr, aber ich bin auch verliebt. Ich glaube auch nicht, dass das weggeht.»

Seit 2017 sind sie verheiratet, die Trauung fand im Knast statt, in dem Kiko immer noch sitzt (dreimal in der Woche dürfen sie zehn Minuten lang miteinander telefonieren, einmal in der Woche dürfen sie sich zwei Stunden lang sehen – ohne sexuelle Betätigung –, mindestens einmal in der Woche schreiben sie sich angeblich einen Brief).

Angela ihrerseits wohnt in einer Zwei-Zimmer-Wohnung im Kanton Aargau. Dort lernt sie unter anderem Arabisch: «Die Schrift ist wunderschön, wie so eine Geheimschrift.»

Joggen macht Angela glücklich

Im weiteren Verlauf der Homestory zeigte Angela diverse Föteli von sich als Mädchen, etwa eins, auf dem sie auf einem weissen Pony sitzt (siehe obige Bildstrecke). Soooooo herzig!

Ebenfalls war zu erfahren, dass sie ganz viel jogge: «Wenn ich jogge, werde ich immer zufriedener und glücklicher», liess sie den Reporter lachend wissen. «Ich liebe es, wenn ich merke: Ich habe Power, ich könnte ewig weit rennen, ewig. Und dieses Gefühl ist einfach unvergleichlich, es ist mega schön» (dazu zwitscherten die Waldvöglein).

Wie sie überhaupt zu ihrem ehemaligen Beruf gekommen war, verriet sie auch: Sie hatte realisiert, dass sie im Gefängnis «Menschen helfen kann, ein Stück weit, die Zeit dort drin herumzubringen» (okay, an dieser Stelle musste ich schon ein bisschen lachen).

Liebe kam schleichend

Ihre Ausführungen, wie sie den zu dreieinhalb Jahren verurteilten Häftling Hassan kennengelernt hatte, waren herzerwärmend: Die Liebe sei schleichend gekommen, «er hat angefangen, viel zu erzählen, plötzlich, und ich habe gemerkt, dass ich mich freue, wenn ich ihn sehe».

Hassan zum selben Thema: «Angela war der einzige Mensch, der an mich geglaubt hat. Der einzige Mensch! Und ich habe mich wirklich wohlgefühlt, als sie da war und zugehört hat.»

Ach – warum ist der ebenfalls zu Wort kommende ehemalige Gefängnisdirektor Roland Zurkirchen bloss so streng («Sie können in einem Gefängnis arbeiten, Sie sehen den Mann Ihres Lebens, päng, Sie verlieben sich. Das ist nicht die Frage. Die Frage ist: Was mache ich dann, wenn das passiert? Auch in solch einem Moment hätte es Spielraum gegeben für eine konstruktive Lösung. Nur wurde die nicht gewählt. Und wenn sie nicht gewählt wurde, stellt sich die Frage: Warum wurde sie nicht gewählt?»)?

«Ich wusste, dass ich zum Direktor hätte gehen müssen»

Angela zu diesem Thema: «Mein Kopf wusste, dass ich zum Direktor hätte gehen und ihm sagen müssen: Hey, schau, es geht nicht mehr – ich habe diesen Rank überhaupt nie mehr gefunden.» Dafür fanden sie dann ja den Rank hinaus in die Freiheit, nicht wahr.

Gibt es sonst noch etwas zur Sendung zu sagen? Nur im Falle, dass ein Zuschauer auf irgendwelchen ernsthaften Erkenntnisgewinn gehofft haben sollte: Einen solchen gab es nicht. Jedenfalls ist mir keiner aufgefallen (und auch keinerlei Zündstoff), aber ich hatte halt die rosarote Brille auf ...