«Anne und der Tod» Tod durch Altenpflege: Ein furioser Stuttgarter «Tatort»?

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19.5.2019

Schon wieder ein sehr starker Fall mit den Kommissaren Lannert und Bootz in Stuttgart. Oder sind Sie genervt von «Tatort»-Folgen mit nur einem Verdächtigen?

In Stuttgarter «Tatort»-Revier setzt man neuerdings auf erhöhte Aufmerksamkeit und die Intelligenz des Zuschauers. Wie schon bei den letzten, sehr starken Schwaben-Krimis «Der Mann, der lügt» oder «Stau» musste man auch bei «Anne und der Tod» verdammt aufpassen, um kein Detail zu verpassen und nicht von der Ton-Bildschere an der Nase herumgeführt zu werden. Ein sehr anspruchsvoller – und dennoch leicht zu schauender – Krimi mit einer faszinierenden Hauptdarstellerin.

Worum ging es?

Anne Werner (Katharina Marie Schubert), die als mobile Altenpflegerin arbeitet, wird von den Kommissaren Lannert (Richy Müller) und Bootz (Felix Klare) vorgeladen, weil binnen kurzer Zeit zwei ihrer Patienten direkt nach ihrem Besuch aus dem Leben schieden. Paul Fuchs (Harry Täschner) war alt und bettlägerig, aber gesundheitlich stabil. Seine junge Ärztin (Julia Schäfle) hegt den Verdacht, es könnte ein lebensnotwendiges Medikament weggelassen worden sein. Auch Christian Hinderer (Christoph Bantzer) war alt und sehr schlecht zu Fuss. Als er tot am Fuss einer Treppe gefunden wird, beschuldigt seine Witwe die Altenpflegerin, ihn hinuntergestossen zu haben. Ein langes Verhör, in dem die Kommissare jedes Detail von Annes Wirken durchleuchten, beginnt.

Worum ging es eigentlich?

Um Lüge und Wahrheit. Auch darum, ob Wahrheit immer die «beste Lösung» ist. Insofern wirkte der neue Stuttgarter Fall fast wie eine Fortsetzung des letzten, von der Kritik hochgelobten Falles «Der Mann, der lügt», in dem ein notorischer, verzweifelter Lügner von den Kommissaren dekonstruiert wurde. Diesmal war die Verdächtige weitaus sympathischer. Ja, der Zuschauer wünschte ihr geradezu, dass sie davonkommt. Leider ist es immer noch die Aufgabe der Ermittler, die Wahrheit herauszufinden und den Täter zu überführen. Selten waren Kommissare – völlig ohne Gewalt anzuwenden oder auch nur laut zu werden – so gnadenlos wie zuletzt Lannert und Bootz in ihrem Verhörraum.

Wer war die grandiose Hauptdarstellerin?

Katharina Marie Schubert gilt zu Recht als eine der besten deutschen Schauspielerinnen ihrer Generation. Lange zeigte die 42-Jährige dies vorwiegend am Theater. Mit 22 spielte die Braunschweigerin nach ihrer Ausbildung am Wiener Max Reinhardt Seminar bereits am dortigen Burgtheater, ehe sie an den Münchener Kammerspielen zum Star wurde. Seit 2010 ist sie am Deutschen Theater Berlin unter Vertrag.

Zuletzt vertrauten auch immer mehr Filmemacher auf die fast schon atemberaubend authentische, facettenreiche Arbeit der 1,76 grossen Schauspielerin: «Wellness für Paare», «Zuckersand», «Ein Geschenk der Götter» – alles preisgekrönte Filme aus den letzten Jahren mit Schubert in einer Hauptrolle. Trotzdem wird sie nach wie vor kaum erkannt. Warum? Weil sich Schubert auch äusserlich oft mit ihren Rollen «verwandelt». Die neue «Tatort»-Rolle dürfte allerdings dafür sorgen, dass sie sich nun noch mehr anstrengen muss, um übersehen zu werden.

Todesengel im «Tatort»: Gab's das nicht schon?

Pflegebedürftige scheiden aus dem Leben. Humanistischer Gnadenakt oder einfach nur Mord? Neben der Frage, wie menschen(un)würdig Alte und Kranke in unserer Gesellschaft behandelt werden, bietet das Thema Pflege auch schmerzvollen Krimistoff. «Im toten Winkel», ein Bremer «Tatort» aus dem Frühjahr 2018, hatte Not- und Missstände rund um bedürftige Alte und Schwerkranke im Stile des klassischen Sozialdramas inszeniert. Durchaus stark, aber auch enorm freudlos.

Zu Recht schrieb die Presse: Der Täter war der Pflegenotstand! Der Münchner «Tatort: Ausser Gefecht» erzählte 2006 von einem Krankenpfleger (Jörg Schüttauf) als «Todesengel», inszenierte seinen Fall jedoch als Thriller. Auch die Kölner Kommissare Ballauf und Schenk (Klaus J. Behrendt und Dietmar Bär) waren schon im Altenheim unterwegs. Bereits 2003 widmeten sie sich dem Pflegenotstand in der Folge «Hundeleben». Mit dem versöhnlichen Ende, dass Schenk seiner Oma doch lieber eine neue Wohnung anmietete, anstatt sie im Heim zu lassen.

Warum musste man bei diesem Krimi so verdammt aufpassen?

Deutsche Durchschnitts-Krimis transportieren ihre Kern-Informationen meist doppelt und dreifach. In der Regel sieht man im Bild das, was einem auch noch mal im Dialog oder Monolog verdeutlicht wird – und umgekehrt. Das ist natürlich nett für Mitrater, die sich auch mal zwischendurch ein Wurstbrot in der Küche schmieren wollen. Kein Problem, einfach den Fernseher lauter drehen! Doch das funktionierte nicht in «Anne und der Tod».

Drehbuchautor Wolfgang Stauch («Tatort: Tod und Spiele») und Regisseur Jens Wischnewski («Die Reste meines Lebens») spielten ziemlich herausfordernd mit der Aufmerksamkeit des Zuschauers. Nicht immer wurde chronologisch erzählt. Und vor allem sah man im Bild nicht immer das, was die Stimme Anne Werners aus dem Verhör-Off erzählte. Wahrheit, so die wohl aktuelle Arbeitshypothese der schwäbischen «Tatort»-Redaktion, gibt es nicht umsonst. Man muss sie sich – auch als Zuschauer – erarbeiten.

Der «Tatort: Anne und der Tod» lief am Sonntag, 19. Mai, um 20.05 Uhr auf SRF 1. Mit Swisscom TV Replay können Sie die Sendung bis zu sieben Tage nach der Ausstrahlung anschauen.

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