Mini-Experiment Warum der Hauptverdächtige die «Tatort»-Kommissare zu Nebenfiguren machte

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4.11.2018

Ein ganzer «Tatort» aus Sicht des Hauptverdächtigen – der einem auch noch leidtun sollte: Ist «Der Mann, der lügt» aus Stuttgart tatsächlich gelungen?

Die Stuttgarter «Tatort»-Kommissare Lannert (Richy Müller) und Bootz (Felix Klare) wurden diesmal tatsächlich in die zweite Reihe verfrachtet. Im Mittelpunkt des Falls stand «Der Mann, der lügt», ein bemitleidenswerter Hauptverdächtiger. Konnte dieses Mini-Experiment wirklich mitreissen?

Was war so besonders am Schwaben-«Tatort»?

Eigentlich handelte es sich beim neuen Fall der Stuttgarter Kommissare um einen Krimi wie aus dem Bilderbuch. Ein Mord, mehrere Verdächtige, eigenartige Familienverhältnisse sowie zwei Ermittler, die den Hinweisen lehrbuchmässig nachgehen und schliesslich eine heisse Spur finden. Allein: Erzählt wurde der bemerkenswerte «Tatort» unter Regie von Martin Eigler ausschliesslich aus Sicht des Hauptverdächtigen. Jener bemitleidenswerte, von Manuel Rubey herausragend gespielte «Mann, der lügt» erlaubte trotz klassischem Plot einen frischen Blick auf das Genre.

Kann so ein Krimi funktionieren, wenn die Kommissare nur als Nebenfiguren auftreten?

Statt gemeinsam mit den Kommissaren mitzufiebern, wurde die Empathie des Zuschauers auf einen einzigen Verdächtigen gelenkt. Und das klappte hervorragend! Erzählt wurde die Geschichte des Jakob Gregorowicz. In jeder Szene stand der gutverdienende Ehemann und Familienvater im Mittelpunkt, in jeder Minute wurden wir Zeugen seines schleichenden Niedergangs. Kein Blick auf die Leiche, keine Spurensicherung, keine Diskussionen zwischen den Kommissaren – den Stand der Ermittlungen erfuhr der Zuschauer nur aus Perspektive der Hauptfigur.

Warum tat «Der Mann, der lügt» einem so leid?

So richtig sympathisch war er ja nun nicht. Spiessertypus, Duckmäuser. Und dann auch noch hoch verdächtig, den Anlageberater Uwe Berger erstochen zu haben. Mitleid empfand man trotzdem mit ihm – wohl vor allem, weil er sich so unsäglich auffällig und dumm verhielt. Die laufenden Widersprüche und Falschaussagen, die unklugen Lügereien, selbst gegenüber seiner Frau (Britta Hammelstein) und seinem Anwalt (Hans Löw). Stellte man sich anfangs die Frage «Was würde ich tun, käme ich als Unschuldiger ins Zentrum der Ermittlungen?», gelang dem «Tatort» tatsächlich ein mitreissender Dreh: Das Mitgefühl mit dem mutmasslichen Täter blieb. Die insgeheime Frage lautete nun: «Was würde ich tun, wenn ich schuldig wäre, aber der Strafe entgehen will?» Und immer wieder das gen Fernseher geflehte: «Mach das nicht, du Depp!»

Wer war der grandiose Darsteller, der die Hauptfigur spielte?

Manuel Rubey heisst der Mann, dessen brillantes Spiel in der Lage war, fast den gesamten Film zu tragen. Musste es ja auch. Schliesslich sahen wir etwa den Tatort, die Villa Bergers, wie alles andere nur aus Sicht seines Charakters (warum musste er da noch mal vorbeifahren?). Daneben fing die mitreissende Inszenierung die Emotionen und körperlichen Reaktionen des Verdächtigen in intimer Nähe ein – sein Schwitzen, sein Zittern, seine verschwommenen Rückblicke und seinen oft trüb werdenden Blick auf die Welt. Mit Rubey, der 2007 den «Falco» gab, stand und fiel das gesamte Konzept. Es gelang eindrücklich: Der sympathische 39-jährige Wiener Schauspieler, derzeit auch im aktuellen Kinofilm «Feierabendbier» zu sehen und sonst aktiv gegen Rechtspopulismus, machte alles richtig.

Was steckte hinter der Auflösung, und worum ging es tatsächlich?

Ja, das Ende machte nachdenklich. Das grinsende Schuldeingeständnis wirkte nurmehr völlig entrückt von jeder Realität. Warum, fragte man sich, wird einer lieber zum von allen Seiten unter Druck stehenden Hauptverdächtigen in einem Mordfall – als mit offenen Karten zu spielen und seine Liebe zu einem jungen Mann zu gestehen. So zeigte der «Tatort» auch auf, wie gross die Angst vor homosexuellem Outing ist, wenn man Ehemann und Familienvater ist. Es war der Blick auf einen Mann, dem sein gesamtes bisheriges Leben zu entgleiten drohte; einen Menschen, der voller Verzweiflung mit immer neuen Lügen darum kämpfte, dass alles so bleibt, wie es war. Der dabei indes nicht zu sehen vermag, dass um ihn herum längst alles zerbrochen ist. Mehr kann man von einem «Tatort» wahrlich kaum verlangen.

Der neuste «Tatort» lief am Sonntagabend, 4. November, um 20.05 Uhr auf SRF zwei. Mit Swisscom TV Replay können Sie die Sendung bis zu sieben Tage nach der Ausstrahlung anschauen.

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