Brillantes Katz-und-Maus-Spiel Warum Wotan Wilke Möhrings zehnter «Tatort» ein Glanzlicht war

tsch

22.4.2018

Der zehnte Fall von Wotan Wilke Möhring als Bundespolizist Thorsten Falke war ein cleveres Spiel mit alternativen Wahrheiten.

Während eines nächtlichen Einsatzes von Thorsten Falke (Wotan Wilke Möhring) und Julia Grosz (Franziska Weisz) starb eine junge Frau. Stammte die Kugel aus der Dienstwaffe des in Lüneburg ermittelnden Bundespolizisten Falke? Und überhaupt: Sind nun auch der aufrechte Punkrock-Kommissar und seine so nüchtern eingeführte Kollegin verrückt geworden? Der «Tatort»-Krimi «Alles was Sie sagen», der zehnte Möhring-Fall, verströmte einen Hauch von «True Detective». Und das ausgerechnet im «Rote Rosen»-Städtchen Lüneburg.

Was war passiert?

Ein mutmasslicher Kriegsverbrecher aus Syrien sollte in Lüneburg untergetaucht sein, die Bundespolizisten Thorsten Falke (Möhring) und Grosz (Weisz) suchten ihn. Dabei gerieten sie in den Strudel einer Kleinstadt, in dem Verdächtige auffällig oft aus umstellten Gebäuden flohen und das organisierte Verbrechen insgesamt gut aufgestellt war. Dem konnten die Marschalls von ausserhalb nur mit einer List begegnen. Im Verhörraum tricksten Falke und Grosz, die in ihrem vierten Fall definitiv enger zusammenrückten, den lokalen Bad Cop (Joachim Rehberg) aus.

Worum ging es wirklich?

«Alles was Sie sagen» war kein Themen-«Tatort», wie der Einstieg vermuten liess. Die politische Sprengstoff-These, ein Kriegsverbrecher könnte sich als Flüchtling tarnen, verblasste zugunsten eines Katz-und-Maus-Spiels um alternative und inszenierte Wahrheiten. Natürlich ist genau das ein grosses modernes Thema unserer Zeit - aber darum ging es auch nicht. «Alles was Sie sagen» war ein angenehm undeutsches Krimistück ohne gesellschaftliche Message. Einer der besten Möhring-Fälle bislang bewies vielmehr: Mit Speck fängt man Mäuse. Hat man eine wirklich originelle Idee und versteht es, sie in ein gutes Drehbuch umzusetzen, braucht es kein «grosses Thema», um einen sehr starken «Tatort» zu kreieren.

Wie waren die Kommissare in Form?

Exzellent. Beide konnten sich von einer völlig neuen Seite präsentieren - ohne dass dies konstruiert wirkte. Der aufrechte Milchtrinker Falke, sonst ein Robin Hood im Punkrock-Shirt, wirkte plötzlich fies und aufbrausend. Ein Mann, der ausgerechnet im beschaulichen Lüneburg ausrastete, wo sich sonst Midlife-Crisis-geschütteltes Personal der ARD-Soap «Rote Rosen» Dialoge von der Stange zuwirft. Und die spröde Julia Grosz? Gab sich scheinbar einer alten Bettgeschichte mit dem ehemaligen Kollegen Olaf Spiess (Marc Rissmann) hin. Flirten mit nächtlichem Cocktailgenuss statt Observation - da machte sich das Zielobjekt schon mal unbemerkt durch den Vorderausgang vom Acker. Die neuen Facetten standen dem Ermittler-Team ausgezeichnet. Ab sofort weiss man: Bei Falke und Grosz darf mit hintergründigem Humor und klugen Taschenspielertricks gerechnet werden, wie man sie sonst nur aus schmutzigen Gangsterfilmen kannte, die früher aus England, den USA oder Frankreich importiert wurden. Lino Ventura hätte dieser «Tatort» gefallen.

Wer hat sich das Ganze ausgedacht?

Das Drehbuchautoren-Team Jan Martin Scharf und Arne Nolting ist derzeit ziemlich angesagt. Für ihre Serie «Weinberg», die beim Bezahlsender TNT lief, erhielten sie den Adolf-Grimme-Preis. Da strickten sie einen Krimi zum «modernen Schauermärchen in der Tradition der deutschen Romantik um» - so die Begründung der Jury. Noch auffälliger wurde das 1974 (Scharf) und 1972 (Nolting) geborene Team mit der jugendlichen Krankenhausserie «Club der roten Bänder», die sie für Vox von einem katalanischen Format adaptierten. Auch dafür gab es den Grimme-Preis. Kaum zu glauben, dass die beiden Autoren vor zehn Jahren bei der RTL-Action-Serie «Alarm für Cobra 11 - Die Autobahnpolizei» angefangen haben.

Seit wann darf man den Bildern nicht mehr trauen?

Früher galt im Film ein ungeschriebenes Gesetz: Alles, was man im Bild sieht, ist auch wirklich passiert. Dann jedoch kam 1950 der japanische Regisseur Akira Kurosawa mit seinem Film «Rashomon». Darin wird ein Verbrechen vor einem mittelalterlichen Gericht verhandelt. Es geht um die Ermordung eines Samurai und die Vergewaltigung seiner Frau. Vor den Richtern schildern nun verschiedene Zeugen und Beschuldigte völlig unterschiedliche Versionen des Tathergangs - ohne dass sich innerhalb dieser Versionen logische Brüche ergäben. Das Stilmittel «alternativer Wahrheiten» im Film wurde in jüngerer Vergangenheit durch die preisgekrönte US-Serie «True Detective» wiederbelebt. Da erinnerten sich Matthew McConaughey und Woody Harrelson als ehemalige Cop-Partner - schauspielerisch brillant - sehr unterschiedlich an einen lange zurückliegenden Fall. Dem «Tatort: Alles was Sie sagen» stand dieser Schuss cinematografischer Erzählgrösse ausgezeichnet.

Wie gut war der «Tatort»?

Dieser TV-Krimi war keine anstrengende Hommage ans Kunstkino oder die US-Serien-Elite. Auch zählte der «Tatort» nicht zu den berüchtigten «experimentellen» Fällen, denen laut ARD in Zukunft Einhalt geboten werden soll. «Alles was Sie sagen» war im Prinzip ein bodenständiger Krimi, aber eben einer mit besonderem Kniff, vorgetragen in gehobener Erzählkunst. Für die realistische Inszenierung sorgte der talentierte Hamburger Regisseur Özgür Yildirim («Chiko», «Blutzbrüdaz»). Zusammen mit dem «Tatort: Verbrannt», der im Oktober 2015 die wohl wahre Geschichte des in einer Polizeizelle gemeuchelten Asylbewerbers Oury Jalloh nacherzählte, war es der bisher beste «Tatort» mit Wotan Wilke Möhring. Wir vergeben eine Bis-Sechs.

Der neuste «Tatort» lief am Sonntag, 22. April, um 20.05 Uhr auf SRF 1. Mit Swisscom TV Replay können Sie die Sendung bis zu sieben Tage nach der Ausstrahlung anschauen.

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