Irre Gewaltszene in Kieler «Tatort» Wie oft werden Polizisten zu «Tätern»?

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10.5.2020

Und wieder war der Mörder ein Polizist. Doch wie oft passiert es tatsächlich, dass Beamte Menschen töten? Und: Wer spielte die traumatisierten Polizeischüler im krassen Kieler Fall «Borowski und der Fluch der weissen Möwe»?

Der neue Kieler Fall der Kommissare Klaus Borowski (Axel Milberg) und seiner Partnerin Mila Sahin (Almila Bagriacik) schockte mit einer irren, weil völlig unerwarteten Gewaltszene. Während eines Rollenspiels im Hörsaal der Kieler Polizeischule erstach die Auszubildende Nasrin (Soma Pysall) furienhaft einen Mitschüler. Die jungen Polizisten von Kiel wurden als schwer traumatisiertes Klientel mit schwierigem Background gezeichnet. Dies ermöglichte den jungen Darstellern, ihr Können zu zeigen – auch wenn der Realitätsfaktor des Krimis nicht allzu hoch war. Erst im vorletzten «Tatort», dem Frankfurter Fall «Die Guten und die Bösen» war es ein Kommissar (Peter Lohmeyer), der sich früh selbst als Mörder outete. Findet der Trend, dass Polizisten im TV öfter zu Tätern werden, auch in der Wirklichkeit statt?

Worum ging es?

Während einer halsbrecherischen Fahrübung mit Martinshorn werden Polizeischüler zu einem Hochhaus-Einsatz gerufen. Eine junge Frau will sich nach unten stürzen. Obwohl die Beamten in spe, Leroy (Stefan Hergli), Tobias (Enno Trebs) und dessen Freundin Nasrin (Soma Pysall), ihr Bestes geben, können sie den Selbstmord der etwa gleichaltrigen Jule (Caro Cult) nicht verhindern. Als am nächsten Tag in der Schule eine Tatort-Praxisübung unter der Anleitung der Kieler Kommissare Mila Sahin (Almila Bagriacik) und Klaus Borowskis (Axel Milberg) stattfindet, kommt es zu einer irren Gewalttat: Nasrin, die von einem Kollegen im Spiel unerwartet als Geisel genommen wird, ersticht wie von Sinnen ihren Mitschüler. Was ging in Nasrin vor, das sie so hat austicken lassen? Borowski und Sahin beginnen, die Leben der Jung-Polizisten zu durchleuchten.

Worum ging es wirklich?

«Borowski und der Fluch der weissen Möwe» war eher ein spannender Psychothriller als ein psychologisch fundierter Kriminalfilm. Er lebte von krassen, überraschenden Momenten, der eine traumatisierte Jugend zeigte, die – zum Teil – im Polizeiberuf gelandet ist. Das Anheuern bei der Ordnungsinstanz konnte jene tiefen Spuren, die eine Jugend mit Ohnmacht und Gewalterfahrungen bei den Freundinnen Jule und Nasrin hinterlassen hatte, jedoch nicht ausgleichen. Trauma ist eben das, was selten von alleine weggeht, und sich untherapiert irgendwann seine Bahn bricht. Dass auch die männlichen Polizeischüler das Leid der jungen Frauen aufnahmen und in eigene Gewalt und Racheakte ummünzte, war durchaus eine gewagte Behauptung der Drehbuchautoren Eva und Volker A. Zahn («Aufbruch ins Ungewisse», «Das Leben danach»). Das Phänomen des Affekts wurde in diesem «Tatort» sehr grossgeschrieben.

Wer hat diesen «Tatort» gedreht?

Die Story war gewagt, ihre Umsetzung jedoch durchaus mitreissend. Für sie ist Regisseur und «Tatort»-Debütant Hüseyin Tabak verantwortlich, ein Ostwestfale mit türkisch-kurdischem Background. Für seine Kinoarbeiten wurde der 38-Jährige bereits mit Preisen überhäuft. Sein Debüt-Langfilm «Deine Schönheit ist nichts wert» von 2012 wurde auf etwa 50 Festivals gezeigt und gewann mehr als 20 Preise. Er erzählt klischeefrei und mit viel Einfühlungsvermögen die Coming-of-Age-Geschichte eines zwölfjährigen Migranten, der sich neu in Wien einleben muss. Zuletzt inszenierte Tabak die Boxerinnen-Story «Gipsy Queen», eine Art «Million Dollar Baby», das auf dem Hamburger Kiez spielt. Der Mann kennt sich also aus mit jungen, kämpferischen Charakteren. Die Energie und Inszenierung seiner jungen Darsteller auf jeden Fall eine klare Stärke des Kiel-Krimis.

Wer waren die jungen Darsteller?

Die verzweifelte Polizeischülerin und Mörderin Nasrin wurde von der noch recht unbekannten Soma Pysall gespielt. Die 1995 geborene Deutsche mit arabischen Wurzeln war bereits in der Amazon-Serie «Beat» (2017) sowie dem TVNow-Jugendprodukt «Wir sind jetzt» an der Seite von Lisa-Marie Koroll als «Zoe» zu sehen. Auch privat liebt die Berlinerin – wie im Film – das Kickboxen, aber sie spielt auch Klavier. Ebenfalls 1995 geboren ist Enno Trebs, der Nasrins Freund Tobias verkörpert. Trebs, der aus der Nähe von Berlin stammt, hat vier Geschwister, von denen drei – Lilli, Nele und Pepe – ebenfalls als Schauspieler arbeiten.

Nichts für schwache Nerven: Die bizarrsten Leichenfunde beim «Tatort»

Enno Trebs spielte 2009 ein Kind im Filmmeisterwerk «Das weisse Band». Seitdem ist der Nachwuchs-Darsteller gut beschäftigt. Unter anderem war er in Filmen wie «Picco», «Mona kriegt ein Baby» oder «Freistatt» zu sehen. Auch im «Tatort» sieht man ihm bereits zum dritten Mal, sein letzter Auftritt fand in der Schwarzwald-Folge «Damian» statt, wo er einen Freund der Titelfigur verkörperte. Wem die lebensmüde Jule vom Hochhausdach bekannt vorkam – ihre Darstellerin Caro Cult spielt in der jüngsten Staffel von «Babylon Berlin» die Tänzerin Vera, eine Freundin von Ermittlerin Charlotte Ritter.

Wie viele Menschen werden von Polizisten erschossen?

Glaubt man den Krimis, die das Fernsehen regelrecht fluten, mutieren deutsche Polizisten regelmässig selbst zu Tätern und Mördern. Natürlich ist wenig über die Dunkelziffer tötender Polizisten bekannt, aber es ist zumindest extrem selten, dass Beamte im Dienst Menschen töten – unabhängig davon, wie diese Taten im Anschluss juristisch bewertet werden.

Die Statistik weist aus, dass in Deutschland 2018 elf Menschen von Polizisten erschossen wurden. Insgesamt bewegt sich diese Zahl seit 1990 auf ähnlichem Niveau. Die Spanne reicht von drei Toten im Jahr 2003 bis zu 21 Toten 1995. Im statistischen Mittel starben durch Polizistenschüsse – nur diese Todesart wird durch die Statistik der Deutsche Hochschule der Polizei im Auftrag der Innenministerkonferenz erfasst – pro Jahr knapp zehn Personen. Im TV-Krimis dürfte dieser Wert, einschliesslich gesendeter Wiederholungen deutscher Krimis, locker pro Woche erreicht werden.

Wie geht es weiter beim Kieler «Tatort»?

Zwei neue Fälle mit Klaus Borowski (Axel Milberg) und seiner Partnerin Mila Sahin (Almila Bagriacik) sind bereits abgedreht. Schon im September 2019 entstand «Borowski und die Schatten der Vergangenheit» (Drehbuch: Patrick Brunken und Torsten Wenzel, Regisseur: Nicolai Rohde), der wohl als nächstes gezeigt wird. Erzählt wird darin ein sehr persönlicher Fall Klaus Borowskis, dessen erste Freundin mit 16 Jahren auf dem Weg zum legendären Jimi Hendrix-Konzert auf Fehmarn verschwand und deren skelettierte Leiche nun gefunden wurde.

Danach wird es mit «Borowski und die Angst der weissen Männer» wieder politischer. Im Krimi von Peter Probst und Daniel Nocke (Drehbuch) unter der Regie von Nicole Weegmann geht es um eine antifeministische Gruppe aus dem Internet. Deren Weltbild ist der «Incel»-Bewegung zuzurechnen ist, dem auch die Attentäter von Halle und Toronto anhingen.

Der «Tatort: Borowski und der Fluch der weissen Möwe» lief am Sonntag, 10. Mai, um 20:05 Uhr auf SRF 1. Mit Swisscom TV Replay können Sie die Sendung bis zu sieben Tage nach der Ausstrahlung anschauen.

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