Zum zweiten Mal in Folge steht die Schweiz im EM-Viertelfinal. Nach den zuletzt starken Auftritten gegen grosse Fussballnationen scheint auch England nicht mehr unüberwindbar.
«Warum sollten wir nicht auch England schlagen können?», fragte Murat Yakin mit Blick auf die letzten Auftritte seiner Mannschaft. Warum nicht? Noch vor einem Monat hätten viele eine lange Liste von Gründen aufzählen können, weshalb ein Sieg in einem EM-Viertelfinal gegen die «Three Lions» für Schweizer Ohren eher abenteuerlich klingt. Doch plötzlich scheint die Frage gar nicht mehr so abwegig.
Denn in den letzten Wochen lief fast alles für die Schweizer Nationalmannschaft. Oder zumindest für Yakin. Seine Personal-Entscheide erwiesen sich im Nachhinein stets als richtig. Selbst beim 1:1 gegen Schottland, dem einzigen Spiel, in dem man sich etwas mehr erhofft hatte, stellte er mit Xherdan Shaqiri den Torschützen in die Startelf.
Der vor dem Turnier heftig kritisierte Nationaltrainer hätte allen Grund, sich auf die Schulter zu klopfen. Doch wenn er das tut, dann heimlich. Nach aussen gibt er sich bescheiden. «Natürlich machen wir einen Plan, wie wir den Gegner besiegen wollen», sagte der 49-Jährige. «Aber wie die Spieler dann auf den Platz gehen und das richtig zelebrieren, das ist auch für mich ein Genuss.»
Italien schnell abgehakt
Vor allem im Achtelfinal gegen Italien steigerte sich die Mannschaft nach der bereits ansprechenden Leistung im letzten Gruppenspiel gegen Gastgeber Deutschland (1:1) nochmals. Die Schweizer kontrollierten die Partie. Angeführt von Captain und Stratege Granit Xhaka liessen sie den Ball durch die eigenen Reihen laufen und setzten die Italiener bei Ballbesitzwechsel sofort unter Druck.
Der dominante Auftritt gegen die grosse Fussballnation war «ein Statement», wie Breel Embolo nach dem Spiel sagte. Ein Statement ähnlich jenem, das Österreich im letzten Gruppenspiel gegen die Niederlande abgegeben hatte. Der anschliessende Hype war allerdings schnell wieder vorbei. Um das zu verhindern, traten die Schweizer bewusst auf die Euphoriebremse.
Yakin gab den Spielern am Montag frei und damit Zeit, das Geschehene zu verarbeiten. Mit dem Training am Dienstag war der Fokus bereits wieder auf den nächsten Gegner gerichtet. «Wir stehen mit beiden Füssen auf dem Boden», sagte Steven Zuber. «Wir wissen, wer wir sind und wo wir herkommen.» Dass nun viele fragen, ob die Schweiz plötzlich sogar Favorit sei, schieben die Spieler locker beiseite. «Wir konzentrieren uns nur auf unsere Leistung», so Zuber.
Lange Serie der Sieglosigkeit
Aber natürlich ist der Umstand, dass England bei seinen bisherigen Auftritten noch nicht überzeugen konnte, ein Thema. Weder in der Gruppenphase noch im Achtelfinal gegen die Slowakei (2:1 n.V.) vermochte die Milliarden-Truppe um Jude Bellingham, Phil Foden und Harry Kane zu glänzen. Die Chancen der Schweiz, das «Mutterland des Fussballs» nach 41 Jahren und zuletzt 13 sieglosen Partien in Folge wieder zu düpieren, scheinen damit so gut wie lange nicht mehr.
Und doch ist es ein Gegner, der vor dem Turnier zu den meistgenannten Titelfavoriten zählte. «Die Engländer haben so viel Qualität im Kader, so viele Spieler, die den Unterschied ausmachen können», sagte Murat Yakin, der auch darauf hinwies, dass das schwierige Spiel gegen die Slowakei als «Knopföffner» gedient haben könnte. «Was vorher war, ist sowieso zweitrangig. Es ist ein neues Spiel, eine neue Ausgangslage. Alles ist offen», so der Schweizer Nationaltrainer, der selbst am besten weiss, wie schnell sich der Wind drehen kann.
Ruhe als Stärke
Als Spieler ist Yakin schon einmal an einer EM auf England getroffen. Vor 20 Jahren stand er auf dem Platz, als die Schweiz im zweiten Gruppenspiel 0:3 und Stürmer Alex Frei die Nerven verlor. Die sogenannte «Spuckaffäre» sei aber nur eine Episode einer insgesamt unruhigen Kampagne gewesen, erinnerte sich Yakin. «Heute ist die Situation ganz anders. Die Spieler sind fokussiert, die Stimmung im Team ist sehr gut.»
Letztlich wird es darauf ankommen, ob ein funktionierendes Team eine Gruppe hochkarätiger Individualisten in den Schatten stellen kann. «Wir sind in einer guten Situation, haben in den letzten Wochen viel Selbstvertrauen getankt», sagte Yakin. «Wir werden sehen, es ist ein offenes Spiel.»
Und vielleicht ist diese betont ruhige Art genau die richtige, um ein möglicherweise historisches Spiel anzugehen. Gewinnt die Schweiz, steht sie zum ersten Mal überhaupt im Halbfinal eines grossen Turniers. Drei Jahre nach der knappen Niederlage im Penaltyschiessen gegen Spanien könnte dieser Schritt nachgeholt werden. Ja, warum nicht?