Die Fähigkeit, am Tag X bereit zu sein, ist an den alle vier Jahre stattfindenden Sommerspielen entscheidend. Dafür muss der Kopf stimmen. Sportpsychologe Jörg Wetzel gibt Einblick in seine Arbeit.
Eine Athletin oder ein Athlet kann noch so fit sein, wenn Körper und Geist nicht im Einklang sind, ist eine Enttäuschung vorprogrammiert. Doch was braucht es, um an einem Grossanlass wie den Olympischen Spielen, für viele das Highlight schlechthin, das Potenzial ausschöpfen zu können?
«Entscheidend ist, den absoluten Fokus auf das Richtige zu haben, bei sich, seinen Stärken und Zielsetzungen zu bleiben, sich nicht mit anderen zu vergleichen», sagt Jörg Wetzel im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. «Flexibilität, Agilität und Positivität sind weitere wichtige Punkte. Diese Eigenschaften gilt es, mit einer gewissen Leichtigkeit zu kombinieren. Es sind Spiele, man soll es also auch geniessen. Dann fällt einem alles leichter.»
Resilienz benötigt harte Arbeit
So einfach das tönt, so schwierig ist es umzusetzen. Es ist normal, dass immer wieder Zweifel aufkommen. Von daher muss die Resilienz, die psychische Widerstandsfähigkeit, genau so trainiert werden wie die Ausdauer, die Kraft oder die Beweglichkeit. Zwar gibt es auch im mentalen Bereich Talente, die von Natur aus mit einem grossen und beinahe unerschütterlichen Selbstvertrauen gesegnet sind, doch das sind Ausnahmen. Bei den meisten ist das Selbstbewusstsein ein fragiles Gebilde, das mit harter Arbeit gefestigt werden muss.
«Man sollte diesbezüglich nichts dem Zufall überlassen», so Wetzel. Um sich mentale Stärke anzueignen, gibt es diverse Programme wie Akzeptanz-Commitment-Therapy (ACT) oder Psychological Skills Training (PST) sowie Methoden wie Visualisieren, Reframing, also etwas umzudeuten, Atem- und Entspannungstechniken oder positive Gedanken zu entwickeln. Sehr wichtig ist auch, Ziele zu haben und den Weg dorthin zu skizzieren und zu überprüfen. Diese Methoden gilt es zu perfektionieren und im richtigen Moment anzuwenden.
«Es können Fehler gemacht werden»
In Tokio betreut Wetzel unter anderen die Schützin Nina Christen, die am vergangenen Samstag mit dem Luftgewehr über 10 m Bronze gewonnen und der Schweiz die erste Medaille an diesen Spielen beschert hat. Am Tag davor stellten sich der 27-jährigen Nidwaldnerin noch viele Fragezeichen, sie war verunsichert. Doch als es zählte, lieferte sie ab. «Wir sassen intensiv zusammen, und ich und der Trainer stellten kritische Fragen», erzählt Wetzel. «Zwar kann ich hier nicht die Welt retten, es können aber viele Fehler gemacht werden.»
Christen und Wetzel verstehen sich am Wettkampf ohne Worte, was allerdings nur dank intensiver Zusammenarbeit möglich ist. Wetzel spürte am Samstag schon früh, dass für Christen etwas drin liegt. «Man muss dann allerdings die Fähigkeit haben, den gefangenen dicken Fisch sofort an Land zu ziehen. Das ist nicht einfach, es passiert rasch, dass das Gedankenkarussell zu drehen beginnt.»
Mit Metaphern zu arbeiten, ist im mentalen Bereich ein probates Mittel. Nun wartet eine weitere Herausforderung auf Nina Christen, denn am Samstag startet sie im Dreistellungsmatch mit dem Kleinkalibergewehr, ihrer besseren Disziplin. «Ihre grosse Aufgabe ist nun, das Kapitel Bronze abzuschliessen, den dicken Fisch in die Gefriertruhe zu tun, denn sonst fängt er an zu stinken.» Deshalb legte sie ihre Medaille am Dienstagabend um 22 Uhr in den Safe und schloss diesen ab.
Psyche steht im Mittelpunkt
All dies ist allerdings in erster Linie dann relevant, wenn die allerwichtigste Voraussetzung für Erfolg gegeben ist: das psychische und mentale Wohlbefinden. Das beste Beispiel hierfür ist die Top-Turnerin Simone Biles, die zugeben hat, nicht mit dem immensen Druck umgehen zu können und nicht zum Mehrkampf-Final angetreten ist.
Dieses Coming-out findet Wetzel gut, «denn es gibt immer wieder Leute, die mit einem Trauma von den Olympischen Spielen nach Hause reisen. Die klassische Konditionierung funktioniert in der Regel nicht. Es geht nicht per se um Leistungsoptimierung, sondern darum, alle positiv zu unterstützen und dafür zu sorgen, dass sie sich wohl fühlen. Das hat für mich Priorität. Erst danach soll man weitergehen mit der Anwendung von gewinnbringenden Methoden.»