Max Verstappen ist Formel-1-Weltmeister. Der Titelgewinn ist Zeugnis dafür, dass der Niederländer vieles richtig gemacht hat in dieser Saison – trotz zwischenzeitlicher Rückkehr zu früheren Tugenden.
Jos Verstappen und seine damalige Frau Sophie Kumpen müssen bei der Namensfindung für ihren Sohn eine Vorahnung gehabt haben. Sie müssen gespürt haben, dass ihr Filius etwas Besonderes sein wird. Unbescheiden, vielleicht auch unbewusst, haben sie mit Max den Superlativ gewählt. Der aus dem Lateinischen stammende Vorname ist die Kurzform von Maximilian, was seinerseits auf Maximilianus zurückgeht und sich auf das Wort Maximus bezieht, das mit «sehr gross» oder «am grössten» übersetzt werden kann. Max heisst also nichts weniger als «der Grösste».
Die Gene
Der Glaube ans Besondere war auf jeden Fall nicht unbegründet. Gene für einen erfolgreichen Autorennfahrer waren genug vorhanden, vonseiten des Vaters, aber auch vonseiten der Mutter. Jos Verstappen bestritt in der Formel 1 107 Grands Prix, Sophie Kumpen war eine begnadete Kart-Fahrerin, die unter anderem gegen die späteren Formel-1-Fahrer Jarno Trulli, Giancarlo Fisichella oder Jenson Button, dessen Teamkollegin sie zwischenzeitlich war, aber auch gegen Christian Horner, den jetzigen Teamchef von Red Bull, angetreten war. Die Belgierin hatte sogar Testfahrten in Formel-1-Autos absolviert, ihre Karriere aber zugunsten der Familie frühzeitig beendet.
Sophie Kumpens Begeisterung für die Rennfahrerei kam nicht von ungefähr. Ihr im Juni vergangenen Jahres verstorbener Vater Robert war ebenfalls im Kartsport aktiv, Onkel Paul war einst belgischer Meister im Rallye-Cross, dessen Sohn Anthony zweifacher Meister in der europäischen Nascar-Serie. Anthony Kumpens Laufbahn endete (zumindest vorläufig) abrupt. Im Frühling 2019 wurde er wegen Dopings mit einer vier Jahre dauernden Sperre belegt.
Schrecklich schnelle Familien, diese Verstappens und Kumpens. Und nun also der Max, der jüngste Spross dieser Rennfahrer-Dynastie, von seinem Vater von frühester Kindheit an gefördert, mit unermesslichem Talent gesegnet – und deshalb der Schnellste und der Beste von allen. «Talent ist, wenn einem am Anfang viele Dinge leicht von der Hand gehen und man diese Dinge sofort richtig macht, ohne sich darüber gross Gedanken machen zu müssen. Talent macht siebzig Prozent des Erfolges aus. Den Rest muss man sich hart erarbeiten», sagt der neue Formel-1-Weltmeister.
Der Frühreife
Die hohe Begabung verschaffte Max Verstappen früh einen Arbeitsplatz in der Formel 1, so früh wie keinem anderen Fahrer. Sein Debüt gab er im zarten Alter von 17 Jahren und 167 Tagen. Es war eine Premiere mit Nebengeräuschen. Der Entscheid der Leitung des Teams Toro Rosso, das seit der letzten Saison unter AlphaTauri firmiert, den Jüngling trotz begrenzter Erfahrung im Formel-Sport als Stammfahrer einzusetzen, sorgte vielerorts für Empörung und Unverständnis, die Reaktionen waren heftig. Die Formel 1 sei kein Kindergarten, bei Toro Rosso würden sie verantwortungslos handeln, war unter anderem zu hören.
Der verbale Widerstand verstummte schnell. Verstappen überzeugte die Skeptiker von Anfang an. Als er schon in seinem zweiten Grand Prix, jenem von Malaysia, als Siebter die ersten WM-Punkte gewann, schlug die Stimmung endgültig um. Verstappen war ab sofort das Super-Talent, das Wunderkind, der zukünftige Weltmeister.
Verstappen hätte diese Lobhudelei nicht gebraucht. Sein Selbstbewusstsein liess keinen Platz für Zweifel. Er ging seinen Weg mit der Unbekümmertheit eines Jugendlichen und mit der Konsequenz eines Hochbegabten – immer im Glauben, das Richtige zu tun. Diesen Weg ebnete er sich, wenn's nötig war, auch mit Rücksichtslosigkeit.
Der Rüpel
Diese bedingungslose Art, mit der Verstappen auf der Rennstrecke zu Werke ging, kam vorab bei der Konkurrenz nicht gut an. Sein Drang, das Machbare auszuloten, und das damit verbundene Risiko, Grenzen zu überschreiten, Unfälle und Ausfälle zu provozieren, wurde nicht goutiert. Er wurde zum Rüpel gestempelt, zum «Mad Max». Der gesunde Menschenverstand wurde ihm abgesprochen. Niki Lauda hatte ihm sogar die Visite beim Psychiater empfohlen. Diesen und alle anderen Ratschläge schlug er aber in den Wind. Übertriebener Ehrgeiz und Sturheit verhinderten die Hinterfragung seines Tuns.
Der «verrückte Max», nach nur einer Saison und vier weiteren Grands Prix innerhalb der Rennorganisation von Red Bull von Toro Rosso in die erste Equipe befördert, behielt seinen Fahrstil bei. Es störte ihn nicht, im blauen Auto in der Szene zum roten Tuch geworden zu sein. Sein Selbstvertrauen war gross genug, um mit dem schlechten Ruf leben zu können.
Der Rückfall
«Mad Max»? Rüpel? Flegel? Die Unvernunft schien Vergangenheit, die Zeit des unüberlegten Sturms und Drangs vorbei. Verstappen hatte sich gewandelt – als Autorennfahrer und als Mensch. Zum Talent gesellte sich charakterliche Reife. Diese neue Reife bewirkte ein Umdenken. Den Tanz auf dem schmalen Grat zwischen Risiko, Angriffslust und Zurückhaltung beherrschte er mit ganz wenigen Ausnahmen meisterhaft.
Doch je näher das Saisonende kam und sich das Duell um den Titel gegen Hamilton zuspitzte, desto mehr geriet Verstappen ins alte Fahrwasser. Im zweitletzten Grand Prix in Saudi-Arabien war da wieder der unüberlegte, sture Verstappen am Werk, der die Gemüter erhitzte. Er war wieder der Rüpel auf seiner eigenen, unverständlichen Mission.
Verstappen wird sich ankreiden lassen müssen, auf dem Weg zu seinem ersten Weltmeistertitel doch noch von der Ideallinie abgekommen zu sein. Ihm wird (auch) das egal sein. Für ihn ist vordergründig wichtig, am grossen Ziel angekommen zu sein.
Verstappen darf trotz seiner temporären Aussetzer darauf verweisen, in diesem Jahr vieles gut gemacht zu haben. Sehr gut sogar, endlich besser als alle anderen. Das WM-Schlussklassement ist der Beleg dafür. Seit Sonntag ist Max endgültig der Grösste. Jos Verstappen und Sophie Kumpen sind mit ihrer Vorahnung richtig gelegen.