Am Sonntag beginnt die Fussball-WM in Katar. Sie wirft mehr Fragen auf als andere Weltmeisterschaften. Sportlich ist sie für die Schweiz verheissungsvoll.
Vieles ist etwas anders als in früheren Jahren. Die Leichtigkeit will nicht richtig aufkommen. Die Panini-Bildchen tauschen sich schlechter, die Tipp-Spiele laufen schleppend, und die Analysen sind halbherzig vorgetragen. Das liegt nicht am Nebel und an den zunehmend tiefen Temperaturen hierzulande. Dass die Fussball-WM im europäischen Winter stattfindet, ist noch das geringste Problem der 22. Austragung.
Die Vorfreude will nicht richtig aufkommen, was zum einen damit zu tun hat, dass eben erst die letzte Super-League-Runde zu Ende gespielt wurde in einer verkürzten Saisonhälfte, in der die englischen Wochen die Regel waren. Zum anderen ist da der Gastgeber, mit dem man sich schwerlich anfreunden kann. Korruptionsverdacht, horrende Ausgaben für die Infrastruktur, schlechte Arbeitsbedingungen für die Migranten auf den Baustellen, Menschenrechtsverletzungen oder Stadien mit Klimaanlagen sind einige der Punkte, die das Turnier und den Gastgeber Katar ins Abseits gebracht haben.
Die WM, die das kleine Emirat mit seinen nicht ganz drei Millionen Einwohnern eigentlich im besten Licht hätte erstrahlen lassen sollen, wirft nun einen grossen Schatten. Während sich die letzten diskutablen Veranstalter von Grossereignissen, China und Russland, ziemlich gut aus der Affäre gezogen haben, bekommt Katar aus dem Westen die ganze Wucht der öffentlichen Meinung zu spüren. Eine richtiggehende Lawine an Vorwürfen. Für einmal scheint wahr, was jene gerne propagieren, die Grossanlässe an politische Aussenseiter oder fragwürdige Machthaber vergeben wollen: Der Veranstalter rückt in den Fokus und wird zum Wandel gedrängt.
Zumindest zum Teil ist Katar als erster WM-Gastgeber im arabischen Raum auf die Kritik eingegangen, hat Gesetze angepasst, etwa jenes, das die Rechte der Migranten regelt, oder hat die Stadien umweltfreundlicher konzipiert als zunächst vorgesehen. Die acht Arenen, wovon sieben extra für die WM gebaut wurden, werden nach dem Turnier grösstenteils zurückgebaut. Teile davon gehen an Länder der dritten Welt.
WM der kleinen Distanzen
In einem Umkreis von 70 Kilometern wird in Katar die ganze WM zu sehen sein. 64 Partien in vier Wochen, vom Eröffnungsspiel am Sonntag zwischen dem Gastgeber und Ecuador bis zum Final am 18. Dezember in Lusail, im grössten, über 86'000 Zuschauer fassenden Iconic Stadium. Für den Zuschauer ist es möglich, vor Ort mehrere Partien an einem Tag zu sehen, sofern er sich die teure Fussballreise in den Nahen Osten leisten kann.
In vier Jahren wird es deutlich aufwändiger sein, sich mehrere WM-Partien anzuschauen. Verteilt über drei Länder und eine Distanz von Mexiko-Stadt bis Vancouver werden 48 Länder um den 37 Zentimeter grossen und 6,7 Kilo schweren WM-Pokal spielen, der derzeit – zumindest symbolisch – im Besitz von Frankreich ist, das vor viereinhalb Jahren in Moskau unter strömendem Regen von Wladimir Putin als Weltmeister geehrt wurde.
Favoriten und dahinter die Schweiz
Frankreich gehört auch in Katar zu den am meisten genannten Titelanwärtern, auch wenn es gegen den Weltmeister-Fluch anspielen muss. In diesem Jahrhundert scheiterte der Titelverteidiger vier von fünf Mal schon in der Vorrunde. Zusammen mit den Franzosen stehen Rekordweltmeister Brasilien, Argentinien, England, Spanien und Deutschland am höchsten in der Gunst der Wettanbieter. Die Schweiz befindet sich im vorderen Mittelfeld.
Sein Geld auf die Schweizer Nationalmannschaft zu setzen war schon hoffnungsloser als in diesem Jahr. Wohl noch nie standen die Chancen auf den grossen Coup so gut wie in diesen Tagen. Die Schweiz stellt eine gut durchmischte Mannschaft mit erfahrenen Spielern wie Granit Xhaka, Xherdan Shaqiri, Ricardo Rodriguez oder Yann Sommer und jüngeren Draufgängern wie Noah Okafor, Ruben Vargas oder Fabian Rieder. In den letzten Monaten hat das Team von Murat Yakin zudem bewiesen, dass es auch die Besten schlagen kann: Spanien, Portugal und an der letzten Europameisterschaft, auf der ganz grossen Bühne, im Achtelfinal Frankreich.
Schiedsrichterinnen und Rekordpreisgeld
Über eine Milliarde TV-Zuschauer dürften die Spiele in den kommenden vier Wochen verfolgen. Es ist die ideale Plattform für Exploits, der Kreis der Sieger ist exklusiv, alle kamen bisher entweder aus Europa oder Südamerika im Verhältnis 12:9. Und auch wenn die Kritik am Gastgeber und auch an der FIFA in den letzten Monaten harsch ausgefallen ist, rechnet der Weltverband mit Einnahmen in Höhe von 4,6 Milliarden Dollar, wovon 440 Millionen als Preisgeld im Pott landen. Der Weltmeister nimmt 42 Millionen mit nach Hause, zehn Prozent mehr als noch vor vier Jahren.
Die Besetzung beim Titelrennen am Persischen Golf ist nahezu perfekt. Als einziger früherer Weltmeister fehlt der aktuelle Europameister. Wie schon vor vier Jahren verpasste Italien die Qualifikation. Ansonsten befinden sich die namhaften Teams unter den Teilnehmern, und auch die meisten Stars von Lionel Messi über Neymar und Kylian Mbappé bis Cristiano Ronaldo sind in Katar mit dabei. Zu den bedeutendsten Abwesenden gehören Erling Haaland, Zlatan Ibrahimovic, Mohamed Salah oder Paul Pogba.
In den Blickpunkt rücken erstmals an einer Männer-WM auch Frauen. Zum 131 Personen umfassenden Aufgebot der Referees, in dem erneut kein Schweizer Aufnahme gefunden hat, zählen drei Hauptschiedsrichterinnen. Im technischen Bereich gibt es mit der halbautomatischen Offside-Erkennung eine Neuerung, die für schnellere Entscheid sorgen soll. Organisatorisch spricht nichts gegen ein gutes Gelingen der so umstrittenen Fussball-WM 2022.