Mikaela Shiffrin erfüllt sich mit dem ersten WM-Titel im Riesenslalom einen ihrer grössten Träume. Sie kämpft in Méribel auch erfolgreich gegen die Vergangenheit.
Das hatten wir schon einmal, vor elf Monaten beim Weltcup-Finale. Der gleiche Ort, die gleiche Piste, die gleiche Disziplin – und die fast gleiche Ausgangslage. Auch damals hatte Mikaela Shiffrin nach dem ersten Lauf des Riesenslaloms vorne gelegen, nur war der Vorsprung um einiges grösser gewesen. Um mindestens 82 Hundertstel hatte sie die Konkurrentinnen distanziert. Was sollte da also noch schief gehen?
Es ging schief, und zwar zünftig. Mikaela Shiffrin fand sich in der Entscheidung mit den Bedingungen, auf der weichen Unterlage mit dem sulzigen Schnee, überhaupt nicht zurecht. Im zweiten Durchgang war sie die Langsamste der 24 klassierten Fahrerinnen, in der Schlussrangliste rutschte sie auf Platz 7 ab. Sie vergab nicht nur den Sieg im Rennen, sondern auch den Sieg in der Disziplinen-Wertung, den zweiten nach jenem drei Jahre zuvor.
Was vor knapp einem Jahr war, war an diesem Donnerstag wieder präsent. Bei Mikaela Shiffrin waren die Erinnerungen zurück – umso mehr die Pistenverhältnisse ähnlich waren wie damals. Nervosität kam auf bei der Amerikanerin. Der diesmal sehr knappe Vorsprung von zwölf Hundertsteln auf ihre erste Verfolgerin, die im zweiten Lauf ausgeschiedene Französin Tessa Worley, liess die Anspannung zusätzlich wachsen.
Die eigene Verwunderung
Beruhigend hätten ihre zuletzt starken Auftritte in den Weltcup-Riesenslaloms wirken können. Fünf der letzten sechs Rennen in der Basis-Disziplin hat sie gewonnen. Schön und gut. Eine solche Serie bringt zusätzliches Selbstvertrauen, aber längst keine Garantie für den wichtigsten Anlass der Saison. Dass Grossveranstaltungen auch für sie, die Überfliegerin, keine Selbstläufer sind, weiss Mikaela Shiffrin spätestens seit den Olympischen Spielen in Peking.
Mikaela Shiffrin bestand den Härtetest – und überraschte sich wieder einmal selber. Gross war ihre Verwunderung, als sie im Ziel abschwang, ebenso gross ihre Augen beim Blick auf die Anzeigetafel. Sie hatte es geschafft, einer ihrer grössten Träume war in Erfüllung gegangen, zum ersten Mal hatte sie Gold in einem WM-Riesenslalom gewonnen.
Die hohen Wellen
Der insgesamt siebte WM-Titel war Erleichterung. Er war aber auch Erlösung, nicht nur wegen der Erinnerungen an den letztjährigen Saisonschluss, sondern auch wegen der Geschichte, die sich am Tag vor dem WM-Riesenslalom zugetragen und die keine unmittelbare Vorbereitung im gewohnten Rahmen zugelassen hatte.
Die öffentlich gemachte Trennung von ihrem langjährigen Coach Mike Day auf Ende der Saison warf hohe Wellen – und noch höhere nach dem Entscheid von Day, die Zusammenarbeit unverzüglich einzustellen und die Heimreise anzutreten. Mikaela Shiffrin verweigerte jegliche Auskünfte über die Gründe, gab aber immerhin zu, keinen optimalen Zeitpunkt für die Verkündung gewählt zu haben.
Die Gerüchteküche brodelte entsprechend. Konkretes war auch von Seiten der Verantwortlichen des amerikanischen Ski-Verbandes nicht zu erfahren. Gemäss dem Tiroler Patrick Riml, dem Alpin-Direktor, soll sich für Mikaela Shiffrin in der Zeit ohne persönlichen Cheftrainer nicht allzu viel ändern. «Mikaela wird sich mehr am Team orientieren. Das ist nichts Neues für sie. Sie hat ja schon einen Teil der Saisonvorbereitung mit ihren Kolleginnen absolviert.»
Mikaela Shiffrin ihrerseits sprach von fordernden Tagen. «Es war sehr schwierig, den Fokus zu halten.» Stolz sei sie, dass ihr das gelungen sei. Und der Gedanke, dass sich das vor elf Monaten Erlebte nicht wiederholte, hatte etwas Befreiendes.