Noch ein Sieg fehlt: England greift im EM-Final gegen Italien nach dem ersten Titel seit 1966. Die Engländer haben im Wembley-Stadion den Heimvorteil, Italien spürt dafür weniger Druck.
«55 Jahre, 302 Spiele und mehr als 144'000 Meilen»: Englands Weg in den EM-Final im eigenen Stadion in London führte nicht nur über die drei Gruppenspiele und die drei K.o.-Partien. «BBC» lieferte die Zahlen, die das historische Ausmass des Finaleinzugs untermalen – und die Sehnsucht nach dem ersten grossen Erfolg seit dem WM-Titel 1966 im Wembley-Stadion noch etwas vergrössern. «Das lange, schmerzhafte Warten auf einen zweiten grossen Final ist vorbei», schrieb der britische TV-Broadcaster.
Die Engländer sind gezeichnet. Mehr als ein halbes Jahrhundert lang setzte es für das Mutterland des Fussballs in aller Regelmässigkeit Enttäuschungen ab, sobald neue Hoffnungen keimten. Generation um Generation zerbrach, am Druck oder am eigenen Unvermögen. Grössen wie Kevin Keegan, Gary Lineker, Paul Gascoigne, Alan Shearer, Paul Scholes, David Beckham, Frank Lampard, Steven Gerrard und Wayne Rooney scheiterten ab den Siebzigerjahren allesamt auf der englischen Titelmission.
Schliesst sich nun, 55 Jahre nach dem WM-Triumph der Mannschaft um Bobby Charlton und Geoff Hurst, ausgerechnet im Wembley der Kreis, dem Ort des letzten Triumphs? Noch ein Sieg fehlt. Nie mehr war ein Titel seit dem 4:2-Finalsieg über Deutschland mit Hursts unvergessenem Phantomtor so greifbar wie jetzt.
Qualität und Pragmatismus
Die englische Mannschaft verfügt über vorzügliche individuelle Qualität. Vor allem in der Offensive hat Gareth Southgate die Qual der Wahl aus Einzelkönnern, die den höchsten Ansprüchen genügen. Aber auch die Defensive ist gut aufgestellt. Harry Maguire und John Stones bilden ein souveränes Innenverteidiger-Paar.
Der Pragmatismus von Trainer Gareth Southgate ist zwar nichts für Fussball-Feinschmecker, er bekommt dem Ensemble aber gut. So sind die «Three Lions» ein schwer unüberwindbares Bollwerk. Nur ein Gegentor haben sie auf dem Weg in den Final zugelassen. Dem glücklichen Los mit der vergleichsweise leichten Gruppe (Kroatien, Schottland, Tschechien) und dem Achtelfinalgegner Deutschland als einzigem Schwergewicht in der K.o.-Phase sowie der Heimvorteil in fünf der sechs bisherigen EM-Partien ist diese Statistik nur teilweise zuzuschreiben.
Auch dank der starken Defensive träumt ganz England vom ersten EM-Titel. Die Politiker um den fussballverrückten Premierminister Boris Johnson fiebern ebenfalls mit. Und scheinen dabei auszublenden, dass sich die Corona-Situation in England gerade wieder gefährlich rasant verschlechtert. Mehr als 60'000 Zuschauer dürfen im Wembley vor Ort sein. Hinzu kommen die zahlreichen Ansammlungen in den Städten.
Die grösste Hürde kommt erst
England ist nahe dran. Doch das grösste Hindernis hat die Mannschaft noch vor sich. «Wir dürfen uns freuen, dass wir im Final stehen. Aber es gibt noch eine riesige Hürde zu nehmen», mahnte Southgate. Tatsächlich stellt Italien die überzeugendste Equipe des Turniers. Die Serie von 33 Spielen ohne Niederlage nimmt nach der verpassten WM 2018 fast schon ein unheimliches Ausmass an.
Die Squadra Azzurra von Baumeister Roberto Mancini ist kein Starensemble, aber eine eingespielte Einheit mit riesigem Zusammenhalt und gelebter Solidarität. Ihr Weg in den Final war coupierter als jener der Engländer, doch die Mannschaft meisterte jede Aufgabe. Sie überzeugte nicht nur, sondern glänzte phasenweise auch. Zugleich ist sie sich nicht zu schade, im Ernstfall verpönte alte Tugenden auszuspielen wie das Zeitspiel im Viertelfinal gegen Belgien oder das Abweichen vom spektakulären geradlinigen Angriffsspiel gegen die dominanten Spanier.
Dieses Italien, das mit seinem neuen Stil auch alteingesessene Kritiker für sich gewann und mit Giorgio Chiellini und Leonardo Bonucci zugleich über das wohl beste Innenverteidiger-Duo verfügt, bringt zweifellos die Eigenschaften mit, die es für den Gewinn des zweiten EM-Titels nach 1968 braucht. «Italien hat keine Angst, auch nicht vor Englands Heimvorteil. Wir sind es gewohnt, in solchen Stadien zu spielen und werden daraus Kraft beziehen», sagte Mittelfeldspieler Marco Verratti.