Um kurz nach 10.30 Uhr verliest Giulia Steingruber im Zoo in Gossau ihre Rücktrittserklärung. «Ich durfte Schweizer Sportgeschichte im Frauen-Turnen schreiben», sagt die 27-jährige Ostschweizerin.
Unter anderem gewann sie 2016 an den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro die Bronzemedaille im Sprung. Danach schlug mehrmals die Verletzungshexe zu, starb 2017 ihre Schwester und folgte die Pandemie. «Es waren fünf kräftezehrende und nervenaufreibende Jahre», führt Steingruber aus. Dennoch holte sie in diesem April in Basel nochmals EM-Gold im Sprung und erreichte sie in Tokio an ihren dritten Olympischen Spielen den Mehrkampf-Final.
«Das erfüllt mich mit Stolz», sagt Steingruber. «Ich war immer sehr zurückhaltend mit meinen Emotionen nach den Erfolgen, war sehr gefasst, weil ich nie ganz realisiert habe, was ich erreichen durfte in meiner Karriere. All diese Auf und Abs machten mich zu jenem Menschen, der ich heute bin. Nun sind mein Körper und mein Kopf müde.»
Giulia Steingruber, Sie haben im Zoo in Gossau Ihren Rücktritt bekannt gegeben. Ist das ein Ort, der eine besondere Bedeutung für Sie hat?
«Einerseits bin ich in meiner Heimat, wo ich aufgewachsen bin. Andererseits ist der Zoo für mich eine der schönsten Kindheitserinnerungen, ein Ort, an dem ich mich erholen konnte. Es ist für mich passend, hier meine Karriere zu beenden.»
War es ein schwieriger Entscheidungsprozess?
«Definitiv. Es war ganz, ganz schwierig. Ich durfte diesen Sport über 20 Jahre ausüben. Es war ein Prozess, der noch andauern wird. Aber ich bin sehr gespannt, was auf mich zukommen wird und freue mich auf die nächsten Schritte.»
Sie haben schwierige Jahre hinter sich, waren oft verletzt. Welchen Einfluss hatte das auf Ihren Entscheid?
«Das spielte eine sehr grosse Rolle. Für mich ist wichtig, dass die Gesundheit stimmt. In den letzten paar Jahren hat sich viel angehäuft. Insofern wirkte das schon mit beim Entscheid.»
Wie schwierig war es, sich immer wieder aufzuraffen?
«Es war natürlich sehr anstrengend. Dass ich immer Ziele vor Augen hatte, gab mir jedoch extrem viel Motivation und Kraft, um weiterzukämpfen. Zudem half mir das Umfeld, das mich immer unterstützt hat.»
Was nehmen Sie allgemein mit aus der Zeit als Turnerin?
«Das Turnen war für mich eine Lebensschule. Ich durfte sehr, sehr viel lernen, reiste viel. Das wird mir auch im Berufs- und Privatleben helfen. Es brauchte einen enormen Willen, das Durchhaltevermögen ist während all diesen Jahren extrem gestiegen. Das wird mir immer bleiben.»
Was würden Sie als Highlight Ihrer Karriere bezeichnen?
«Es ist schwierig, etwas herauszupicken. 2016 war aber sicher eines meiner besten Jahre. Zuerst durfte ich an der Heim-EM in Bern zweimal Gold (Sprung und Boden) gewinnen, dann liefen die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro super.»
Das Turnen ist ein Sport, der mit sehr vielen Strapazen und grossen Entbehrungen verbunden ist. Hatten Sie nie das Gefühl, etwas verpasst zu haben?
«Nein. Ich bereute nie etwas, übte den Sport stets mit Leidenschaft aus. Das war für mich extrem wichtig. Ich genoss die Zeit, habe vieles erlebt, das anderen verwehrt bleibt.»
Löst der Rücktritts-Entscheid eine gewisse Erleichterung aus, schliesslich ist Spitzensport mit einem hohen Druck verbunden.
«Der Druck war sicher immer da, vor allem auch jener, den ich mir selber auferlegt habe. Das hatte allerdings keinen Einfluss auf meinen Entscheid. Ich turnte für mich, weil ich Freude daran hatte, weil ich gesund war. Es ist für mich nun einfach der Zeitpunkt gekommen, mich als aktive Turnerin zurückziehen.»
Was werden Sie am meisten vermissen?
«Sicher die Wettkämpfe, das Zusammentreffen mit den anderen Athletinnen und Athleten aus dem Ausland. Und dann natürlich den Adrenalin-Kick.»
Haben Sie schon Pläne für Zukunft?
«Ich bin schon in der Planung. Ich mache eine Ausbildung in Marketingmanagement, die noch eine Weile geht und derzeit im Fokus steht. Mehr kann ich momentan nicht sagen. Vielleicht ist meine spätere Aufgabe wieder mit dem Sport verbunden, das wäre sehr spannend. Ich lasse das allerdings auf mich zukommen.»
Sie haben viele Erfahrungen im Turnen gesammelt, sich viel Wissen angeeignet. Können Sie sich vorstellen, all dies weiterzugeben?
«Ich bleibe dem Turnen sicher treu. Ich werde versuchen, die Trainerausbildung fortzusetzen. Das war wegen Corona schwierig. Es ist ein grosses Ziel von mir, meine Erfahrungen weiterzugeben und Kinder glücklich zu machen.»