Christian Milz, CEO von European Athletics, erlebt einen tollen Sommer. Nach einer spannenden EM in Rom lässt sich die Leichtathletik in Paris feiern. Der Neuenburger ordnet ein.
Endloser Applaus, Jubelschreie, «Allez les Bleus»-Anfeuerungen, La-Ola-Wellen, ein volles Stadion schon in den Morgenstunden, ein Hexenkessel, Lichtshows. Mal ehrlich: Haben Sie mit einer solchen Stimmung gerechnet?
Christian Milz: «Diese Atmosphäre zeugt von der Tradition und Akzeptanz der Leichtathletik in Europa und in Frankreich. Das anwesende Publikum kennt den Sport gut, weiss, dass es ein aussergewöhnliches Leistungsniveau, Rekorde und unvergessliche Emotionen geben wird. Jeden Abend hatte ich selbst Gänsehaut, weil die Atmosphäre so berauschend war. Ausserdem liegt Paris im Zentrum Europas und ist leicht zu erreichen. Schliesslich unterstützt das Publikum alle Athleten, was nicht immer der Fall war. Das Beispiel des Stabhochspringers Renaud Lavillenie, der 2016 in Rio vom einheimischen Publikum ausgepfiffen wurde, ist ein solches Beispiel. Aber nein, ich bin nicht überrascht von dieser magischen Atmosphäre».
Das Stadion war trotz der selbst für Schweizer Verhältnisse exorbitanten Preise ausverkauft. Für ein Ticket, zum Beispiel am Donnerstagabend irgendwo unter dem Hallendach, musste man 300 Franken hinblättern. Sind die Olympischen Spiele ein solcher Magnet?
«Wie in der Wirtschaft ist es das Gesetz von Angebot und Nachfrage. Je seltener, prestigeträchtiger und einzigartiger eine Veranstaltung mit begrenzter Kapazität ist, desto mehr Leute sind bereit, einen hohen Betrag zu zahlen. Ausserdem fanden die letzten Olympischen Spiele in Europa vor zwölf Jahren in London statt, und nach Paris wird es mindestens bis 2036 dauern, bis sie wieder in Europa stattfinden. Abgesehen davon bedauere ich diese exorbitanten Preise, die nicht dem Image der Leichtathletik entsprechen, die ein für alle zugänglicher Sport sein sollte. Andererseits hatte das OK ein grosses Budget für den Kartenverkauf vorgesehen und um dieses zu erreichen, musste es leider sehr hohe Preise für die paradiesischste aller Sportarten festlegen.»
Und was sagt Ihnen der Blick auf den Medaillenspiegel in der Leichtathletik?
«Die Leichtathletik wird immer universeller, sowohl in Europa als auch weltweit. Bei der EM im Juni in Rom haben 27 Länder Medaillen gewonnen. Alle Länder unternehmen grosse Anstrengungen, um Talente zu entwickeln und zu finden, nicht nur in ihren traditionellen Disziplinen. Wer hätte vor 20 Jahren gedacht, dass ein Jamaikaner Olympiasieger im Diskuswerfen wird oder dass das olympische Podium im Speerwerfen der Männer aus Pakistan, Indien und Grenada besteht!»
Die Leichtathletik bleibt also die olympische Kernsportart Nummer 1?
«Ohne Überheblichkeit und Arroganz, ja, mit grossem Abstand bleibt die Leichtathletik die olympische Sportart Nummer 1. Man muss sich nur die Fernseh-Einschaltquoten und die Zuschauerzahlen mit über einer Million Besuchern anschauen, da liegt sie sehr weit vor dem Schwimmen, der olympischen Sportart Nummer 2. Und die Fernsehzahlen sind identisch. Auf europäischer Ebene hatten wir während unserer Meisterschaften in Rom 35 Sender, die präsent waren, während das Schwimmen in der Woche darauf in Belgrad bei der EM vier TV-Stationen hatte.»
Dennoch: Sind Rom und Paris nicht einmalige Ausnahmen?
«Wir müssen die Saison strecken, das heisst früher beginnen und später enden, um eine stärkere Präsenz der Leichtathletik zu erreichen. Die weltweite Serie der Diamond League ist der rote Faden, dann kommen die Spitzen, wie Europameisterschaften, Weltmeisterschaften, Olympische Spiele. Andererseits starten wir (European Athletics) im April in Brüssel die Europameisterschaften im Strassenlauf, bei denen nun die europäischen Titel im Marathon, Halbmarathon und 10 km-Lauf vergeben werden. Das Konzept ist neuartig, denn wir bieten jedem Amateurläufer die Möglichkeit, die Europameisterschaft mit den besten Athleten zu bestreiten und eine Mannschaftsmedaille anzustreben, die aus den besten 50 Zeiten, einschliesslich Elite und Amateuren, berechnet wird. Es wird auch eine Einzelwertung pro Nation geben, in der jeder sein Niveau in seinem Land einordnen kann. Sechs Monate nachdem wir die Registrierung eröffnet hatten, hatten wir bereits über 10'000 Teilnehmer aus allen Ländern Europas.»
Sport ist Unterhaltung, das betont auch Sebastian Coe, Präsident von World Athletics. Er sagt wie Sie, dass die Saison gestreckt werden muss. Ausserdem soll das Produkt Leichtathletik stärker an den Lebensstil der Jugendlichen angepasst und mehr «big moments» geschaffen werden. Was halten Sie davon?
«Wir wollen und drängen auf Innovationen, aber im Geiste der Tradition. Die Fernseh- und Streamingzahlen zeigen es deutlich: Das Publikum liebt und konsumiert weiterhin die Leichtathletik und ihre traditionellen Disziplinen. Aber wir müssen noch an einigen Details feilen. Die Zuschauer verstehen zum Beispiel nicht, warum im letzten Zehnkampf der Fünftplatzierte im Ziel des 1500-m-Laufs jubelt, wie es beim norwegischen Olympiasieger der Fall war. Schlimmer noch: Im Ziel des letzten Laufs (800 m) im Siebenkampf musste man drei bis vier lange Minuten warten, um die Platzierung der ersten vier Athletinnen zu erfahren und zu wissen, ob Annik Kälin ihre Bronzemedaille verlieren würde. Dies ist in der heutigen Zeit inakzeptabel.»
Die Lösung?
«Eine Verfolgung wie im nordischen Skisport. Man müsste die Punkte vor der letzten Disziplin in Sekunden umrechnen und die Athletinnen und Athleten mit Handicap starten lassen. Wer zuerst im Ziel ist, der hat gewonnen. Leider haben wir nur wenig Einfluss auf die Änderung der Regeln, aber wir kämpfen für diese Änderung die auch dem Mehrkampf eine grössere Anerkennung geben würde.»
Die Schweiz hat in Paris keine Medaille gewonnen – hätten Sie sich als EA-Präsident darüber gefreut oder müssen Sie nach aussen hin neutral bleiben?
«Mein Herz schlägt für die Schweiz, das ist klar. Andererseits verlangt meine Funktion, dass ich emotional neutral bleibe, und natürlich freue ich mich über jede Medaille für Europa. Zudem wird das Niveau immer höher, die Konkurrenz immer dichter. Die Schweiz hat fünf Top-8-Platzierungen erreicht, sie ist seit über zehn Jahren auf dem richtigen Weg. Mit etwas mehr Glück hätten wir eine oder zwei Medaillen gewinnen können.»
Bei den Europameisterschaften in Rom hat man gesehen, dass vermeintlich kleine Nationen wie die Schweiz, Norwegen oder die Niederlande im Medaillenspiegel vor grossen Nationen wie Deutschland, Polen oder Spanien lagen. Weshalb?
«Die Europameisterschaften 2014 in Zürich, 2016 in Amsterdam oder 2018 in Berlin haben ihre Wirkung nicht verfehlt. Die Schweiz ist ein Vorbild, an dessen Anfang Patrick Magyar mit der Gründung des UBS Kids Cup und anderen Initiativen stand, die der EM in Zürich vor zehn Jahren vorausgingen und weitergeführt werden, wie die Mile Gruyère, der Visana Sprint und das UBS Kids Cup Team. Darüber hinaus ist die professionelle Verwaltung des Scoutings, die Ausbildung der Coaches, die Suche nach Sponsoren etc. eine langwierige Arbeit, die aber automatisch Früchte trägt. Und Swiss Athletics leistet dank seines Präsidenten Christoph Seiler und seines Teams eine unglaubliche Arbeit. Im Gegensatz dazu schlafen auch die anderen Nationen nicht. In den Nachwuchskategorien sind die Deutschen sehr stark, die Franzosen kommen auch wieder.»
Die Franzosen hatten während der Spiele in der Leichtathletik kein Glück, nur eine Medaille.
«Ich wünsche Frankreich und Paris nur eines: dass sie schnell die Mittel und die Kraft finden, um eine Leichtathletik-EM auf der Grundlage der Olympischen Spiele zu organisieren. Das wäre ein schönes Erbe der Spiele und definitiv ein grosses Ereignis mit zweifellos vielen Medaillen in den Farben Rot-Weiss-Blau.»