Reto Gertschen startet am Montag in seinen ersten Zusammenzug als interimistischer Nationaltrainer der Schweizer Frauen. Der 58-jährige Berner will in seiner neuen Rolle vorab Freude vermitteln.
Als sein Telefon klingelt, ist Reto Gertschen gerade ziemlich entspannt. Der Ausbildungschef des SFV geniesst ein paar Tage Ferien. Doch nach diesem Telefonat am Freitagabend vor einer Woche beginnen seine Gedanken zu kreisen, und er versucht auf dem Balkon seines Hotelzimmers eine Einordnung zu machen. Der 58-Jährige soll nach der Entlassung von Inka Grings das Schweizer Nationalteam der Frauen für die zwei anstehenden Partien der Nations League übernehmen. Nach einer Nacht Bedenkzeit sagt der Berner zu.
Mit «sehr viel stolz», tut er das, wie er am Freitagvormittag im Haus des Fussballs in Muri bei Bern erzählt. «Ich habe immer gesagt: Wenn es mich braucht, bin ich da. Es freut mich sehr, dass ich für diese Aufgabe angefragt wurde», sagt Gertschen, der seit 2017 als Ausbildungschef des Schweizerischen Fussballverbandes unter anderem verantwortlich ist für die Trainerausbildungen, die im SFV absolviert werden können.
Die Erfahrung in der U-13
Es dürfte am Hauptsitz des Schweizer Fussballs also kaum jemanden geben, der mehr fähige und mit den nötigen Diplomen ausgestattete Coaches kennt, wenn es darum geht, einen vakanten Posten zu besetzen. Nun ist Gertschen nach längerer Zeit wieder selber in der Position des Trainers. Der frühere Mittelfeldspieler, der mit den Young Boys und Sion je einen Meistertitel und einen Cupsieg feiern konnte, war Spielertrainer in Bümpliz, coachte für ein paar Monate in Grenchen, und er war bei diversen Juniorenauswahlen der Schweiz entweder als Trainer oder Assistent tätig.
Eine Auswahl der Frauen hat Gertschen, der nach der Jahrtausendwende bei YB und Thun auch einige Saisons als Sportchef amtete, noch nie trainiert – bis auf damals, als er selber noch in der Trainerausbildung steckte und bei einem U-13-Team auch vier Mädchen dabei gewesen seien. Gertschen lacht, als er diese Anekdote aus seinem langen Fussballleben erzählt. Überhaupt ist die Stimmung beim ersten Auftritt des Interimstrainers locker und gelöst.
Die 14 Partien mit nur einem Sieg unter Inka Grings, die Diskussionen um unzufriedene Führungsspielerinnen, die Debatten um die richtige Taktik, wie dieses Schweizer Team zum Erfolg zurückfinden kann – sie sind an diesem Morgen weit weg. «Ich möchte mich nicht mit dem beschäftigen, was war», sagt Gertschen. «Ich möchte nur nach vorne schauen, damit wir dieses Jahr positiv abschliessen können.»
Die Begegnungen in der Ausbildung
Dass er selber noch nie in der Verantwortung eines Frauenteams gestanden ist, beunruhigt den Berner nicht. Einerseits, weil er zwar nicht nahe dran am Geschehen rund um das Nationalteam der Frauen war, die Spiele und die generelle Entwicklung jedoch trotzdem interessiert verfolgte. Andererseits, und vor allem, weil er zum Auftakt des letzten Zusammenzugs des Jahres am Montag in Pfäffikon nicht auf unbekannte Gesichter treffen wird.
Gertschen kennt die Spielerinnen, weil sich diese dafür interessieren, ebenfalls eine Trainerausbildung in Angriff zu nehmen. Im Februar war der Ausbildungschef dann bei einem Zusammenzug zu Gast und hielt vor dem ganzen Team einen Vortrag über die Strukturen der Ausbildung, und er legte dar, was die Spielerinnen leisten müssten, wenn sie sich in diese Richtung weiterbilden wollten. Im Anschluss meldeten sich sieben aktuelle Nationalspielerinnen für das Modul an, an dessen Ende in zwei Wochen sie in Besitz des C-Basic-Diploms des SFV sein sollten.
Dennoch ist es Gertschen ein Anliegen zu betonen, dass er die Spielerinnen bisher in einer anderen Funktion gekannt habe. Deshalb ist es ihm wichtig, nicht schon im Vorfeld mit Spielerinnen zu telefonieren, sondern den ersten Kontakt als Trainer dann am Montag mit Beginn des Zusammenzugs zu haben. «Wir müssen uns schnell kennenlernen», sagt Gertschen, schliesslich stünden vor dem zweitletzten Spiel der Nations League am Freitag in Luzern gegen die Weltnummer 1 aus Schweden nur drei Trainingseinheiten im Programm. Daneben möchte der Coach viele Gespräche führen, spüren, was die Spielerinnen brauchen und was sie beschäftigt.
Der pragmatische Blick auf die Tabelle
In Anbetracht des gedrängten Zeitplans ist denn auch nicht zu erwarten, dass Gertschen auf taktischer Ebene einen Fokus legt. Er sagt, für ihn sei das Wichtigste, dass die Spielerinnen Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten haben, dass sie Freude haben, auf dem Fussballplatz zu stehen. Diese Freude soll sich auch im Spiel manifestieren, souverän und stabil soll der Auftritt ebenfalls sein. Welches Resultat dabei herausschaut, ist für den Interimstrainer in der aktuellen Situation sekundär. «Natürlich haben wir theoretisch noch die Chance, nicht abzusteigen, aber wir müssen realistisch sein.»
Und was ist, wenn dieses scheinbare Wunder mit mindestens vier gewonnenen Punkten aus den Spielen gegen Schweden und Italien (5. Dezember in Parma) gelingt? Wird aus dem Interimstrainer dann der definitive Trainer, der die Schweiz an die Heim-EM 2025 begleitet? Gertschen sagt, im Moment sei klar definiert, dass er einfach für diese zwei Spiele übernehme, schliesslich habe er im SFV eine schöne Position inne. Aber er sagt auch: «Ich möchte mich jetzt nicht damit beschäftigen, was in Zukunft sein könnte. Wir haben genug zu tun in diesen zwei Wochen.»