Frankreich, der Achtelfinal-Gegner der Schweiz, hat eine ganze Reihe von Spielern, vor denen man sich in Acht nehmen muss. Der einflussreichste in der Vorrunde war Paul Pogba.
Der Stellenwert eines Spielers misst sich ab und zu auch daran, wann er dafür aufgeboten wird, sich den Medien zu stellen. Paul Pogba geht den Fragen der Journalisten wenn möglich aus dem Weg. Als sich aber wenige Tage vor der Europameisterschaft ein Streit zwischen Olivier Giroud und Kylian Mbappé wegen fehlender Zuspiele vom Zweiten zum Ersten anbahnte, war der Mittelfeldspieler zur Stelle. Mit Humor und Liebenswürdigkeit entschärfte er die Situation, so weit es ging.
Pogba wirkt bei seinem Klub Manchester United auch nach sechs Saisons oft distanziert und ist für die Engländer ein Mysterium. Halbjährlich liebäugelt der Schützling von Star-Agent Mino Raiola mit einem Wechsel. Seine Auftritte auf dem Feld reichen beim englischen Rekordmeister von selten überragend bis öfters ungenügend. José Mourinho biss sich an ihm die Zähne aus und setzte ihn schliesslich gegen Ende seiner Amtszeit auf die Ersatzbank. Auch sein aktueller Coach Ole Gunnar Solskjaer weiss nicht recht, wie er ihn anpacken soll.
Seine beste Zeit im Klub hatte Pogba bei Juventus Turin, in der italienischen Meisterschaft, in der die taktischen und disziplinarischen Regeln zumeist klarer definiert sind als in der Premier League. Da trifft es sich gut, dass Frankreichs Nationalcoach Didier Deschamps vieles, was er weiss, als Spieler eben bei Juventus Turin gelernt hat. Bis zur WM 2018 hörte man oft, wie der Trainer seinem Mittelfeldspieler und Taktgeber Anweisungen zurief, seine liebste war: «Spiel einfach.»
Genialität mit Köpfchen
Es ist nicht das Temperament, das mit Pogba manchmal durchgeht, sondern die Spiellust. Die Verlockung, Dinge mit dem Ball anzustellen, nur weil sie schön anzusehen sind. Ein fast auswegloses Dribbling zur falschen Zeit und am falschen Ort gehört weiterhin zu den Schwachpunkten des 28-Jährigen. Aber es kommt viel seltener vor. Heute stellt sich Pogba zumindest in Blau in den Dienst der Mannschaft und verzichtet grösstenteils auf die Kabinettstückchen, zu denen er in der Lage ist.
Sehenswert bleibt das Spiel von Pogba allemal. Zwar hat er wie viele seiner Mitspieler an dieser EM noch nicht zur Konstanz gefunden, die es ihm erlauben würde, im Mittelfeld durchgehend den Ton anzugeben. Aber er brilliert zumindest phasenweise und das reichte in der Vorrunde schon mal. Ein grosser Teil der gefährlichen Aktionen der Franzosen hatte seinen Ursprung bei Pogba. Den Treffer gegen Deutschland leitete er mit einem Aussenrist-Pass ein, jenen von Benzema gegen Portugal mit einem perfekt getimten Zuspiel in die Tiefe.
Zum Leader gereift
Nicht wenige Beobachter der französischen Nationalmannschaft behaupten, dass Pogba der heimliche Chef der Mannschaft ist. Hugo Lloris ist der Captain, Antoine Griezmann der Mann der wichtigen Tore und Kylian Mbappé der Star. Aber Pogba ist auf und neben dem Feld das Verbindungsglied. Er versteht sich mit allen Generationen, kann für gute Stimmung sorgen und mahnende Worte sprechen. Er war es, der nach dem WM-Halbfinal gegen Belgien zur Mannschaft redete, um den Fokus aller gleich auf den Final zu richten. Auch vor dem ersten EM-Match gab er die Ziele aus, noch bevor Lloris weiterführte.
Im Mittelpunkt stand Pogba schon immer. In den Junioren-Nationalmannschaften ragte er heraus, selbst bei der U20-WM 2013, die er mit Frankreich gewann, erschien er eine Klasse besser als der Rest seines Teams. Doch die Verantwortung in der Mannschaftsführung überliess er gerne den anderen. Vor der WM 2018 warf Dänemarks damaliger Nationalcoach Age Hareide Pogba vor, nur an seine Haare zu denken.
Blaise Matuidi erzählte gegenüber der Sportzeitung «L'Equipe», wie er während der letzten WM das Gespräch mit Pogba gesucht hatte. «Ich habe ihm gesagt, es sei an ihm, nun die Zügel zu übernehmen», erinnert sich der für Inter Miami spielende ehemalige Teamkollege. «Er versprach mir, es zu versuchen, obwohl es ihm nicht liege.» Er sei glücklich zu sehen, dass seine Worte gewirkt hätten: «Er ist zum Chef geworden.»