Immer wieder der (Mit-)Favorit, stets riesige Erwartungen, aber seit 1966 nur noch Herzschmerz. Englands Fussballer scheitern immer wieder an Penaltys, Roten Karten und «blinden» Schiedsrichtern.
Es sind Bilder, die sich in die Köpfe jedes englischen Fussballfans eingebrannt haben: der weinende Paul Gascoigne nach dem verlorenen Penaltyschiessen im WM-Halbfinal 1990, der ungläubige Blick von David Beckham oder Wayne Rooney nach Roten Karten in wichtigen K.o.-Spielen, die jubelnden Italiener und hängenden Köpfe von Harry Kane und Co. vor drei Jahren im heimischen Wembley.
Gascoigne, Beckham, Rooney, Kane, Gary Lineker, Alan Shearer, Michael Owen, Steven Gerrard, Frank Lampard – die Liste englischer Stars, die auf Nationalmannschaftsebene nichts erreicht haben, ist lang. Von der Sowjetunion bis Italien haben seit 1960 zehn verschiedene Länder- darunter alle grossen europäischen Fussballnationen und ein paar kleinere – mindestens einen EM-Titel geholt. Ausser England. Die Qualität war vermeintlich immer da, doch die Resultate sind eine Aneinanderreihung von Unvermögen, fehlender Cleverness, versagenden Nerven und, ja, ab und zu auch einfach Pech.
Englands Penalty-Trauma
Seit der WM 1986 scheiterte England bei grossen Turnieren dreizehn Mal in der K.o.-Phase, mehr als die Hälfte davon im Penaltyschiessen – auf besonders bittere Art bei den beiden Heim-EM, 1996, als Deutschlands Andreas Köpke im Halbfinal den letzten Versuch des heutigen Cheftrainers Gareth Southgate hielt, und eben vor drei Jahren, als den eingewechselten Marcus Rashford, Jadon Sancho und Bukayo Saka die Nerven versagten. Lediglich Saka gehört auch diesmal wieder zum EM-Team.
Dann schossen sich die englischen Stars oft auch selber ins Knie; als Beckham 1998 im Achtelfinal gegen Argentinien und Rooney 2006 im Viertelfinal gegen Portugal für Tätlichkeiten des Feldes verwiesen wurden. 2002 liess sich Goalie David Seaman im Viertelfinal von Ronaldinhos Freistoss aus fast 40 Metern zum entscheidenden 1:2 überraschen, Brasilien wurde dann Weltmeister.
Zweimal wurden die Engländer aber auch durch krasse Schiedsrichter-Fehlentscheide benachteiligt, die in die Geschichte eingingen: Diego Maradonas berühmt-berüchtigtes 1:0 mit der «Hand Gottes» im WM-Viertelfinal 1986 und Frank Lampards nicht anerkannter 2:2-Ausgleich im WM-Achtelfinal 2010 gegen Deutschland, als der Ball für (fast) alle deutlich sichtbar hinter der Linie war. Die Szene lieferte immerhin ein wichtiges Argument für die bald daraufhin eingeführte Torlinien-Technologie.
Vorne top, hinten flop
Und nun? Auch diesmal gehört England bei den Buchmachern zu den Topfavoriten. «Great Expectations» (Grosse Erwartungen) nannte Charles Dickens seinen grossartigen Bildungsroman – und das kann auch als Motto für die «Three Lions» gelten. Vor allem offensiv kann Southgate aus dem Vollen schöpfen.
Das Mittelfeld mit dem Abräumer Declan Rice, dem Dribbelkünstler Phil Foden und dem Wunderkind Jude Bellingham ist vom Feinsten, und vorne ist Rekord-Torschütze Harry Kane einer der zuverlässigsten Knipser der Welt. Gerne wird dabei übersehen, dass die Abwehr nach wie vor höheren Ansprüchen nicht genügt. Southgates bevorzugtes Quartett Kyle Walker, John Stones, Harry Maguire und Luke Shaw ist bereits in Topform kaum Weltklasse, zu allem Übel plagten sich zuletzt alle mit Verletzungsproblemen und fehlender Spielpraxis herum.
Einmal mehr spricht deshalb viel dafür, dass in England die Erwartungen auch diesmal höher sind als die tatsächlichen Fähigkeiten. Die Frage ist, welche herzzerreissende Art man diesmal findet, um auszuscheiden.