Zoé Claessens ist die grosse Schweizer Hoffnungsträgerin im BMX. Am Wochenende greift die 22-jährige Waadtländerin in der Nischensportart nach ihrer zweiten WM-Medaille.
Die nackten Zahlen aus dieser Weltcupsaison, die Plätze 2, 4, 6 und 14, verraten es nur ansatzweise. Aber der Schweizer Nationaltrainer David Graf, selbst langjähriger Spitzenfahrer und WM-Medaillengewinner, betont es mit Nachdruck: «Zoé Claessens ist ohne Zweifel eine der Top-3-Fahrerinnen der Gegenwart.»
Die junge Westschweizerin, die im Juli mit dem Gewinn des EM-Titels wieder Fahrt aufgenommen hat, ist Grafs grösste Hoffnung an den Weltmeisterschaften in Schottland. Am Wochenende ist sie eine derjenigen Athletinnen, die der Saison-Dominatorin Bethany Shriever den Sieg streitig machen können. Die 24-jährige Britin gewann dieses Jahr drei der bisherigen vier Weltcups und kennt die WM-Strecke in Glasgow aus zahlreichen Trainings so gut wie kaum eine andere.
Natürlich, da ist auch noch Simon Marquart bei den Männern. Der 26-jährige Winterthurer gewann im Vorjahr in Nantes als erster Schweizer BMX-Racer WM-Gold und tritt am Samstag als Titelverteidiger zu den ersten Ausscheidungsläufen an. Ein Jahr nach seinem Coup gehört er, wie Teamkollege Cedric Butti, zum grossen erweiterten Kreis der Medaillenanwärter. Verletzungen und in Teilen auch der Erfolgsdruck banden ihn aber in den letzten Monaten etwas zurück.
Kein Weg zu steinig
So lastet der grösste Erfolgsdruck im Schweizer BMX-Team gegenwärtig auf einer Athletin, deren Karriere bei der Elite noch in den Kinderschuhen steckt, die aber bereits jetzt einen beachtlichen Leistungsausweis vorweist. WM-Silber hat Zoé Claessens im Vorjahr schon errungen, dazu gewann sie zwei Weltcuprennen und schloss die letzte Saison als Zweite im Gesamtweltcup ab. Zwei EM-Titel gehören ebenfalls zum Palmarès der Romande, die sich das Siegen aus Juniorinnen-Zeiten gewohnt ist.
Claessens' Erfolge sind kein Zufall. Als Teil einer BMX-begeisterten Grossfamilie mit sechs Geschwistern bekam die 22-Jährige den Sport quasi in die Wiege gelegt. Um es möglichst weit nach oben zu schaffen, scheut sie keine Mühen. Weil das von der UCI am Hauptsitz in Aigle geführte Projekt einer internationalen High-Performance-Trainingsgruppe nicht mehr weitergeführt wurde, verliess sie die Schweiz Anfang Jahr und zog nach Südfrankreich. Ihre Studienpläne legte sie nach Abschluss des Gymnasiums zugunsten der sportlichen Ambitionen auf Eis.
In Sarrians, gut 100 km nördlich von Marseille, wo jeweils auch der Weltcup haltmacht, trainiert Claessens weiter als Teil einer internationalen Gruppe mit dem japanischen Nationalteam und drei deutschen Athletinnen. Gecoacht wird die Zweckgemeinschaft vom ehemaligen britischen Weltmeister Liam Phillips, die Wohnung teilt Claessens mit einigen Japanerinnen. Es ist kein leichtes Leben, aber es ist der Weg, den du gehen musst, wenn du es in der BMX-Nische an die Spitze schaffen willst.
Heimweh, aber keine Zweifel
«Ich bevorzuge die Schweiz. Die Familie fehlt mir, ich kenne hier nicht viele Leute. Aber es ist die beste Option für mich. Zum Trainieren ist es sehr gut: gute Infrastruktur, gutes Wetter», sagt Claessens. Viereinhalb Stunden ist sie mit dem Auto unterwegs, wenn sie ihre Familie besucht. Manchmal hat sie Heimweh, aber noch nie hat sie den Verzicht angezweifelt, den sie für den sportlichen Erfolg in Kauf nimmt. Das Fernziel sind die Olympischen Spiele 2024 in Paris, die nächste Etappe ist die WM in Glasgow.
Dass weitere Topresultate nach dem Podestplatz beim Saisonauftakt in der Türkei vorübergehend ausblieben, war nebst unglücklichen Rennverläufen auch einem Sturz geschuldet. Einen Tag nach dem 2. Platz bei der Ouvertüre wurde Claessens im zweiten Rennen von einer Gegnerin zu Fall gebracht. Zumindest von einer schweren Verletzung blieb sie verschont.
Rechtzeitig für die WM ist Claessens wieder in bester Verfassung. «Ich fühle mich gut, habe gut trainiert und bin bereit», sagt sie. Am Samstag stehen die ersten Vorläufe an, am Sonntag geht es mit den Viertelfinals in den entscheidenden Tag.