Joy of missing outLasst sie feiern! Ich bleib lieber allein
Von Andreas Fischer
18.6.2021
Lange zum Nichtstun verdammt, gibt es plötzlich wieder ein soziales Leben. Damit kommt nicht jeder klar. Auch nicht der geimpfte Autor dieser Kolumne.
Von Andreas Fischer
18.06.2021, 18:18
19.06.2021, 09:23
Andreas Fischer
Früher, und das ist noch gar nicht so lange her, etwa ein Jahr, früher also, da hatten viele Menschen Angst, etwas zu verpassen. «Fear of missing out» heisst das Phänomen, das einen nicht nur bei der Schnäppchenjagd befällt. Auch die soziale Interaktion ist davon geprägt.
Nur nichts verpassen, überall dabei sein: Wer was mit wem macht, kann man in den sozialen Medien genau nachverfolgen und sich selbst unter Druck setzen, ebenfalls (hyper)aktiv zu werden. Der Wunsch nach sozialem Anschluss und Austausch sei tief im sozialen Wesen aller Menschen verankert, sagt der Psychologe Christian Bosau.
Nach mehr als einem Jahr Corona-Pandemie ist das anders. Zumindest bei mir. Aus FOMO ist FONO geworden: «Fear of Normal», die Angst vor dem Normalen. Natürlich freuen sich die meisten Menschen, dass die Normalität zurückkommt. Einige aber haben Angst vor ihr oder sind zumindest überfordert.
«Ich habe verlernt, wie man sich im Sommer verhält»
Lange konnten die Menschen aufgrund der Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen nicht viel unternehmen. Jetzt dürfen sie es – aber einige wissen gar nicht mehr, was und mit wem. «Ich habe verlernt, wie man sich im Sommer verhält», sagte mir eine Bekannte neulich. Das hat mich überrascht: Ich kannte sie immer als kontaktfreudigen Menschen, jemanden, der oft und viel unterwegs ist, gut mit Menschen kann.
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Dabei hatte ich mich selbst daran gewöhnt, freitagabends zu Hause zu sitzen, mit einem Buch, mit einem Film, mit einer Partie Schach. Der soziale Rückzug der letzten Monate hat mir Sicherheit gegeben, genossen habe ich ihn aber nicht. Ich habe immer wieder davon geträumt, mal wieder mit Freunden abzuhängen, Fussball zu schauen, oder in das Kino zu gehen, in dem ich als Student Filmvorführer war.
Als es dann so weit war, fühlte es sich seltsam an.
Vorige Woche wurde ich ins Kabarett eingeladen. Ich bin aus allen Wolken gefallen, und habe fast wahnhaft Gedanken gewälzt: Kann ich es, trotz Impfung, schon wagen? Ist das überhaupt sicher? Sollte ich meine Maske lieber auflassen? Wie viele Menschen treffe ich? Und wie verhalte ich mich ihnen gegenüber?
Der Abend war dann ziemlich geschmeidig, sogar das Programm – ich bin eigentlich kein Kabarett-Fan – war in Ordnung. Dennoch: Ich fühlte mich unwohl, oder besser: überrumpelt von so viel Normalität. Ich muss mich erst wieder an volle Terrassen vor den Kneipen gewöhnen, an Kulturveranstaltungen in geschlossenen Räumen sowieso und erst recht an die enorme Menschenmenge um Mitternacht im Park.
Auf dem Rückweg musste ich mein Velo nämlich durch tanzende, trinkende, feiernde junge Leute schieben. Es gab fast kein Durchkommen. Von der Ausgelassenheit, die ich ihnen von Herzen gönne, bin ich selbst meilenweit entfernt. Bis ich mich wieder annähere, gehöre ich gern zur Fraktion JOMO («Joy of missing out») und habe wohl noch eine Weile Freude daran, etwas zu verpassen.