Emotionaler Hunger «Mit dem Essen ist das Problem ja noch nicht bewältigt»

Von Sulamith Ehrensperger

27.1.2021

Schokoladensüchtig und etwas verrückt: Singlefrau Bridget Jones (Renée Zellweger) leidet unter ihren unzähligen Diät-Versuchen, Liebeskummer und ihrem attraktiven Chef.
Schokoladensüchtig und etwas verrückt: Singlefrau Bridget Jones (Renée Zellweger) leidet unter ihren unzähligen Diät-Versuchen, Liebeskummer und ihrem attraktiven Chef.
Bild: Keystone

Wir essen nicht nur bei Hungergefühlen, manchmal tun wir’s auch aus Stress, Frust, Langeweile, Kummer. Was sich hinter emotionalem Essen verbirgt und was Bridget Jones damit zu tun hat, weiss Ernährungspsychologin Ronia Schiftan.

Beim Nachhausekommen führt bei manchen der erste Weg zum Kühlschrank. Meist ist der Hunger jedoch auch nach dem Essen nicht gestillt. Frau Schiftan, was verbirgt sich hinter dem Begriff Emotionales Essen?

Emotionales Essen ist ein Essen aufgrund eines emotionalen Zustandes, etwa weil man traurig, enttäuscht oder glücklich ist, ein Verhalten, das sich viele antrainiert haben.

Wie trainiert man sich ein solches Verhalten an?

Niemand will negative Emotionen haben. Die sind für uns unangenehm. Dadurch haben wir ganz viele Strategien, um diese wieder loszuwerden. Essen kann eine dieser Strategien sein. Vielleicht kennen Sie das: Man hatte gerade ein mühsames Telefonat, legt auf und holt sich erst mal ein Schöggeli.

Warum kann Essen bei negativen Gefühlen plötzlich so wichtig sein?

Zur Person: Ronia Schiftan
Ronia Schiftan Psychologin Bern
zVg

Ronia Schiftan, MSc Angewandte Psychologie und Ernährungspsychologin ZEP, ist Angebotsleiterin «Digital-Projekte» bei der Fachstelle PEP (Prävention Essstörung Praxisnah) und freischaffende Psychologin und Mitinhaberin der Externas GmbH. Ihre aktuellen Arbeitsschwerpunkte sind der Einfluss der sozialen Medien auf das Gesundheitsverhalten, Zusammenhänge zwischen Arbeitsbedingungen und dem Essverhalten sowie psychische Gesundheit in der Zeit rund um das neue Coronavirus: Dureschnufe.ch.

Das emotionale Essen ist auf ganz vielen Ebenen nachvollziehbar. Es ist oft ein früh gelerntes Muster, das wir schon aus der Kindheit kennen. Wer hat schon nicht zu hören bekommen: ‹Wenn du brav bist, bekommst du nachher eine Glace›. Das beginnt schon im Säuglingsalter: Weint das Baby, bietet die Mutter die Brust an, um zu sehen, ob es Hunger hat. Solche Bewältigungsmechanismen mit dem Essen sind also naheliegend. Essen ist ja auch schnell zur Hand und es beruhigt. Wenn wir unter Anspannung stehen, hilft kauen, knuspern, knacken, um muskuläre Spannung abzubauen. Es ist eine willkommene Ablenkung und ein Geschmackserleben, das die Sinne anregen kann.

Wer kennt sie nicht, die Filmszene, in der die Filmfigur Bridget Jones aus Liebeskummer schon zum Frühstück Schokolade isst. Glücklich wird sie dabei aber nicht.

Tatsächlich kann emotionales Essen unter Umständen medial erlernt sein. Wir lernen durch Filme, Serien, Bilderbücher und weitere Medien solche Verhaltensmuster. In einer Szene versucht sich Bridget Jones mit einem XL-Glace-Becher zu trösten. Ein Bild, das viele mit Liebeskummer verbinden dürften. Doch wer bei uns seine liebeskranke Freundin mit einem Mammut-Glace-Becher überraschen will, wird merken: Dieses Bild kann ich gar nicht aus meinem Kulturkreis haben, weil es diesen grossen Glace-Kübel bei uns gar nicht zu kaufen gibt. Sie werden also enttäuscht sein, wenn Sie eine Freundin damit trösten wollen.

Wie stark beeinflussen soziale Medien unser Ernährungsverhalten?

Soziale Medien beeinflussen einen so stark, wie man sie zu einer Thematik nutzt. Wer sich in dieser Welt bewegt, sollte sich jedoch bewusst sein, dass wir auch bei der Ernährung eine scheinbar perfekte Welt aufgetischt bekommen. Viele Influencer haben tendenziell weniger Fachwissen, als dass ihre Tipps auf Erfahrungswissen mit teilweise extremen Ernährungsphilosophien basieren. Nicht selten steht auch noch ein Sponsor hinter ihnen. Da kann mein Leben als gewöhnliche Followerin also nur abstinken, wenn ich es mit jenem einer Influencerin vergleiche. Auf meinem Teller gibt es keine Homemade Smooth Shiny Cake Pops oder Perfect Berry Smoothie Bowls. Diese Differenz zwischen Realität und der perfektionierten Darstellung ist auch wieder ein Stressverursacher – und kann im Extrem genau dazu führen, dass man aus Frust emotional isst.

Warum essen wir eigentlich unter Stress? Man könnte ja auch einmal um den Block rennen, um sich abzureagieren.

Mit dem Blick auf die Evolution würde uns Stress den Appetit verschlagen, weil wir auf etwas anderes als Essen fokussiert sind, nämlich das Überleben. Es ist aber nun so, dass uns heute nicht mehr Gefahren wie ein angreifender Tiger stressen, sondern chronischer Stress im Alltag. Es gibt keinen akuten Stressor mehr, sondern Stress gehört in unsere Alltagsstruktur. Wir stehen also unter Daueranspannung und es gibt Leute, die diese Spannung durch Essen kompensieren. Sie essen emotional, weil sie dies zur Stressbewältigung tun. Manche tendieren zur Gewichtszunahme, manche essen mehr Convenience Food, andere essen schneller, hastiger oder en passant am Bildschirm.

Sich mal mit einem Schöggeli trösten dürfte nicht weiter ein Problem sein. Wann aber wird emotionales Essen problematisch?

Wenn das Schöggli eine funktionale Strategie ist, hilft es im Moment gegen diese Emotionen – also warum nicht? Wer allerdings nur das Essen als Regulator hat, dem fehlt das Bouquet an Strategien, um Emotionen bewältigen zu können. Verschiedenes ausprobieren kann helfen: Spazierengehen, Podcasts hören, jemanden anrufen oder Serien bingen. Wenn man hingegen nur noch eine Strategie anwendet, kann dies irgendwann pathologisieren. Mit dem Essen ist das Problem ja noch nicht bewältigt, sondern nur erst mal die Emotionen. Die Frage ist: Was kann ich tun? Wie könnte ich dieses Problem angehen? Es gibt also ganz viele Strategien, um mit negativen Gefühlen umzugehen. Man sollte aber auch das Problem ins Auge fassen, das diese schlechten Gefühle auslöst.

Wie schaffe ich es, dass ich eben nicht immer zum Schöggeli greife?

Das eine ist wirklich, zu schauen: Woher kommt diese Belastung, was stresst mich gerade? Wenn man die Ursache nicht selber herausbekommt oder diese nicht ändern kann, etwa wenn man einen Verlust erlebt hat, soll man nicht zögern, sich Hilfe zu holen – bei Familie, Freunden, Arbeitskollegen oder einer Fachperson. Wenn man merkt, dass man total in diesem Essverhalten gefangen ist, man sich immer wieder an der Schublade mit Süssem ertappt, kann man diese einfach mal nicht mehr füllen. Damit ist das Problem nicht bewältigt, aber man merkt, wie oft man eigentlich nascht. Was auch helfen kann, ist bewusst zu essen, sein Essen zu planen und sich etwas Feines kochen. Es heisst ja nicht, dass man nicht essen darf, sondern es geht darum, diesem Essen einen Stellenwert zu geben und sich nicht nebenbei immer wieder etwas in den Mund zu schieben. Manchmal passiert Snacking übrigens auch, weil man nicht richtig Pause macht und ganz einfach hungrig ist.

Wie kann man das Hungergefühl wieder erlernen?

Ein Schlüssel ist ein regelmässiger Mahlzeitenrhythmus, dass man bewusst Ess- und Ruhephasen einlegt. Die sind auch wichtig, dass sich der Magen auch mal wieder richtig entleeren kann. Wenn wir permanent am Verdauen sind, kostet das den Körper Energie. Er braucht Pausen. Die brauchen wir auch, um die Körperwahrnehmung wieder zu stärken: Damit wir mal wieder auf unseren Bauch hören und nicht einfach essen, bis der Teller leer ist. Wenn wir versuchen, unsere Wahrnehmung von Innenreizen wie Hunger, Sättigungsgefühl oder Geschmackswahrnehmung zu stärken, hilft uns dies schon enorm.

Wie kann ich emotionalen Hunger noch stillen?

Wichtig ist, dass wir nichts in den Extremen tun. Es ist völlig okay, mal emotional zu essen, auch mal über den Hunger gegessen zu haben. Oft wird uns von der Gesellschaft propagiert, dass es nur den einen richtigen Weg gibt. Ich denke aber, wir müssen ein bisschen lernen, mehr bei uns und auch lieber mit uns zu sein.


Analyse der eigenen Essgewohnheiten: Ronia Schiftan hat im Rahmen ihrer Tätigkeit bei der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung SGE zusammen mit der Krankenkasse Atupri einen Fragekatalog entwickelt, der das eigene Essverhalten ein bisschen bewusster macht. Hier geht es zum Selbsttest.

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