Fotografin porträtiert Söhne «Jemand schrieb, ich würde meine Kinder missbrauchen»

Von Sulamith Ehrensperger

8.4.2021

Einmal im Monat hatte Caroline Minjolle ein spezielles Rendezvous: erst mit ihrem Bauch, später mit ihren Söhnen. 25 Jahre lang inszeniert sie die beiden. Entstanden ist ein Fotoband fürs Auge und zum Nachdenken.

Von Sulamith Ehrensperger

Heute haben Babys ihr digitales Debüt ja bereits vor ihrer Geburt. Manche Eltern posten Ultraschallbilder ihres ungeborenen Kindes, viele zeigen beinahe das komplette Leben ihrer Sprösslinge in ihrem Social-Media-Profil.

Auch Caroline Minjolle fotografiert schon seit 25 Jahren ihre beiden Söhne Merlin und Basil. Die französische Fotografin, die seit über 30 Jahren in Zürich lebt, zeigt mit ihren Bildern intime Einblicke ins Familienleben und das Erwachsenwerden.

Keine Schnappschüsse, wie man sie von Instagram kennt. Nein, die Fotos, die sie jeden Monat von ihren Söhnen macht, sind eine Dokumentation, ein Einblick in ihr Leben – und doch alles andere als ein Familienalbum. Jedes der über 3000 Bilder ist bewusst inszeniert. Entstanden ist ein Fotoband, ein Langzeit-Kunstprojekt, an dem sie nun die Öffentlichkeit teilhaben lässt.

Ein Schauspiel für die Fotokamera

Ganz am Anfang war da nur ihr Bauch, der immer grösser wurde. «Auf dem ersten Bild sieht man natürlich noch nichts.» Caroline Minjolle lacht und blättert durch den kürzlich erschienenen Fotoband «Rendez-Vous», der vor ihr liegt. «Die Schwangerschaft war am Anfang abstrakt. Doch es war für mich klar, dass ich aus dem Abenteuer Muttersein etwas kreieren möchte.»

Zur Person: Caroline Minjolle
RENDEZ-VOUS  © Caroline Minjolle
Caroline Minjolle

Caroline Minjolle ist in Frankreich aufgewachsen, seit über 30 Jahren lebt und arbeitet sie in Zürich als freischaffende Fotografin. Sie setzt sich mit dem Körper als Ausdrucksmittel auseinander, früher als Tänzerin auf der Bühne, heute als Fotografin hinter und vor der Kamera sowie als Kuratorin und Unterstützerin von Tanzprojekten zeitgenössischer ChoreografInnen. Im Fotoband «Rendez-Vous» hat sie das Leben ihrer beiden Söhne Merlin und Basil öffentlich dokumentiert.

Neun Monate später beginnt sie ihren Sohn Merlin einmal im Monat vor der Kamera zu inszenieren. Dabei gibt sie ihren Bildern einen wiederkehrenden Rahmen: zwölf Aufnahmen pro Shooting in Schwarzweiss, aufgenommen mit ihrer analogen Hasselblad-Kamera im 6x6-Format.

Dann, zweieinhalb Jahre später, sind es zwei Kinder vor der Linse: Baby Basil ist da. Von jetzt an beginnt sie ihre Shootings, das «Photo du Mois», wie sie es nennt, bewusst zu planen. Es ist fast wie ein Schauspiel für die Fotokamera – mit Verkleidungen, Spielsachen, Alltagsgegenständen, Accessoires, Ferienandenken, Perücken und manchmal Schminke. Und jeden Monat hat sie wieder einen neuen Einfall, spielerisch, ironisch, für manchen Betrachter zuweilen auch etwas provokativ.

Das Foto etwa, das die Jungs mit Wasserpistolen zeigt oder jenes, wo sie den Schriftzug «Fruits prêtes à consommer» auf ihren nackten Oberkörpern tragen. Auf dieses Bild habe sie auch heftige Reaktionen erhalten: «Jemand schrieb, ich würde meine Kinder missbrauchen.» Die Banderolen habe sie in einem Supermarkt in Frankreich gefunden. Der Zweideutigkeit war sie sich durchaus bewusst, habe damit jedoch auch spielen wollen: «Für mich ist es hauptsächlich ein konsumkritisches Bild.»

Das Beispiel zeige, wie sich Wirkung und Bedeutung eines Bildes in den Augen des Betrachters verändern können. «Wie Bilder interpretiert werden, kann ich als Autorin nicht steuern. Sind sie mal in der Welt, wird jeder Mensch etwas anderes darin sehen.»

Ein weisses Quadrat, eine Hasselblad-Kamera und ein klares Ziel: Einmal im Monat ein Foto ihrer beiden Söhne Merlin und Basil, solange es die Lebensumstände zulassen.
Ein weisses Quadrat, eine Hasselblad-Kamera und ein klares Ziel: Einmal im Monat ein Foto ihrer beiden Söhne Merlin und Basil, solange es die Lebensumstände zulassen.
Bild: Caroline Minjolle

Ist es okay, Fotos von nackten Kindern zu machen?

Heute habe man einen ganz anderen Blick auf die Fotos, die nun 15, 20, 25 Jahre alt sind: «Ich habe mir die ganzen Fragen, die heute aktuell sind, damals gar nicht gestellt.» Etwa: Wie ist es, kleine Kinder zu fotografieren, ohne ihr Einverständnis? Ist es okay, Fotos von nackten Kindern zu machen? Was darf man als Mutter von seiner Familie zeigen? «Mittlerweile könnte ich viele Bilder gar nicht mehr so aufnehmen mit dem Wissen, was sie heute alles an Reaktionen auslösen könnten», sagt Minjolle. «Diese Selbstzensur hatte ich damals nicht. Ich spüre sie aber heute.»

Dennoch sind viele ihrer Bilder noch immer aktuell: etwa das Foto, das die Buben in Stilettos zeigen. «Ich sagte zu ihnen, nehmt diese Schuhe und macht etwas damit. Damals war es mehr ein Spiel mit Identität, mit Blick auf die Genderthematik bekommt es eine aktuelle Bedeutung.»

Mit den Jahren hat Minjolle ihre beiden Söhne immer stärker involviert, sie nach ihren eigenen Ideen gefragt. Auf einem der Bilder beispielsweise spielen sie zwei Anwälte. Das war damals während der Scheidung ihrer Eltern. Die beiden fanden es schlicht absurd, jemanden zu engagieren, der die Familienkonflikte regeln soll. Das entstandene Foto zeigt eine Szene, wie man sie aus der Filmwelt kennt.


Ein Blick hinter die Kulissen von «Rendez-vous» mit und von Caroline Minjolle. 

Bild: Raisa Durandi, YouTube 


Erinnerungen an den ersten Gameboy

Die Bilder sind zwar inszeniert, dennoch wachsen einem die beiden Jungs, später Teenager und junge Männer, ans Herz. Sie zeigen ihr jeweiliges Befinden, ihre unterschiedlichen Persönlichkeiten sind spürbar – und das wirkt intim. Beim Betrachten des Fotobandes wird manch eigene Kindheitserinnerung wach: Man erinnert sich an seine Kindergeburtstage, die ersten Strandferien, den ersten Gameboy, vielleicht auch Momente, die man verdrängt hat oder an die man sich besonders gern erinnert.

Zum Ende des Bandes hin werden die Fotos dann ernsthafter. Die äusseren Veränderungen der beiden sind von Bild zu Bild weniger sichtbar. Es sind eher Porträts zweier junger Männer, die mitten im Leben stehen. Mittlerweile ist auch der jüngere Sohn von zu Hause ausgezogen. Damit soll das Kunstprojekt aber nicht zu Ende gehen: Merlin und Basil treffen sich weiterhin drei bis viermal pro Jahr zu fotografischen Rendez-vous mit ihrer Mutter.


Buchhinweis
Arisverlag

Der Fotoband von Caroline Minjolle zeigt 230 Monatsbilder, aufgenommen während 25 Jahren. Die Bilder dokumentieren das Leben mit seinen Höhen und Tiefen des Aufwachsens, des Geschwisterseins und des Erwachsenwerden. «Rendez-Vous» von Caroline Minjolle, erschienen im Arisverlag, 34.90 Franken