Experte im Interview «Kreativität ist kein spezielles Talent»

Von Sulamith Ehrensperger

10.3.2021

Kreative Einfälle verdanken wir nicht einsamen Genies – sie entstehen durch Austausch und Kombination.
Kreative Einfälle verdanken wir nicht einsamen Genies – sie entstehen durch Austausch und Kombination.
Bild: Getty Images

Wie können wir kreativer sein? Wissenschaftsautor Stefan Klein hat nach Antworten gesucht. Warum Genies, die aus sich heraus Epochales schaffen, ein Mythos sind und wie sich Kreativität lernen lässt, sagt er im Gespräch. 

Von Sulamith Ehrensperger

10.3.2021

Herr Klein, nicht kreativ zu sein, das behaupten viele Menschen von sich. Ist Kreativität Zufall? Ein Talent, das man hat oder eben nicht?

Weder noch. Die Vorstellung, dass nur einige wenige Menschen kreativ sein können und die meisten anderen nicht, hat sich in den letzten Jahren nämlich als Irrtum erwiesen. Wir wissen heute, dass Kreativität kein spezielles Talent ist. Sie beruht vielmehr auf den Grundfunktionen unseres Verstandes. Und diese Grundfunktion hat jeder und jede. Menschen unterscheiden sich nur darin, wie viel sie daraus machen.

Jeder Mensch versteht unter Kreativität etwas anderes. Gibt es eine eindeutige Definition?

Ja. Unter Kreativität versteht man die Fähigkeit, neue, überraschende und wertvolle Ideen zu haben. Da sehen Sie schon, woher ein Teil der Verwirrung kommt: Darüber, was neu und überraschend ist, kann man sich leicht einigen. Aber was mir als wertvoll erscheint, damit können Sie vielleicht wenig anfangen. Kreativität liegt daher immer ein Stück weit im Auge des Betrachters.

Würden Sie sich selbst als kreativ bezeichnen?

Ich hoffe, dass ich es bin! Aber eigentlich müsste ich Ihnen die Frage stellen: Wie überraschend, neu und wertvoll fanden Sie die Ideen zum Beispiel in meinem neuen Buch?

Ich fand vieles überraschend. Sind Sie kreativer seit den Recherchen für Ihr Buch?

Ideen auszubrüten und sie umzusetzen, hat mir immer schon Spass gemacht. Aber seit den Recherchen verstehe ich viel besser, was dabei in mir geschieht. Wie ich auf bessere Ideen kommen kann. Und was zu tun ist, wenn ich mich wie vernagelt fühle, was ja leider auch vorkommt.

Dann haben Sie schon mal eine Kreativitätsblockade gehabt?

Natürlich, die habe ich ständig! Und das ist auch ganz normal. Kreativität bedeutet, sich auf Gelände zu begeben, in dem noch niemand war. Was wir als Blockade empfinden, ist meistens die Tatsache, dass wir ein Problem noch nicht richtig verstanden haben. Oder die gewohnte Herangehensweise bei einem Problem nicht weiterhilft. Blockaden, so unangenehm sie sind, zeigen mir fast immer, dass ich auf der Spur von etwas Wichtigem bin.

Viele Menschen behaupten, sie brauchten Druck, um kreativ zu sein. Was macht uns kreativ?

Zum Autor: Stefan Klein
Porträt Stefan Klein, Autor und Wissenschaftler
Bild: Andreas Labes

Stefan Klein ist Physiker, Philosoph und der erfolgreichste Wissenschaftsautor deutscher Sprache. Er wandte sich dem Schreiben zu, weil er «die Menschen begeistern wollte für eine Wirklichkeit, die aufregender ist als jeder Krimi». Sein Bestseller «Die Glücksformel» machte den Autor auch international bekannt. Sein 14. Buch «Wie wir die Welt verändern» ist soeben erschienen. 

Freude an einer Sache! Und überhaupt Freude. Es gibt wunderbare Untersuchungen, die zeigen, dass Menschen sehr viel kreativer werden, wenn es ihnen gutgeht. Und dafür genügt häufig schon eine erstaunlich kleine Veränderung – zum Beispiel ein Kompliment, das sie bekommen. Der Grund ist, dass unsere Hirnsysteme für Neugierde, Glück und Einfallsreichtum sehr eng miteinander verbunden sind. Wenn es manchen Menschen so vorkommt, dass sie nur unter Druck schöpferisch denken können, so liegt es an zweierlei: erstens an einer gewissen Bequemlichkeit. Kreativität erfordert immer auch eine gewisse Anstrengung, zu der wir – leider! – manchmal nur bereit sind, wenn jemand oder etwas uns zwingt. Zweitens sind wir oft überkritisch mit unseren Ideen. Dann kann Zeitdruck helfen, Fünf gerade sein zu lassen. Aber dass Menschen unter grosser Anspannung besonders einfallsreich sind, ist unmöglich.

‹Kreativität besteht schlicht darin, Dinge zu verbinden›, behauptete Steve Jobs. Ist kreatives Denken nichts weiter als die Kunst der Kombination?

Bei allem Respekt für Steve Jobs: Ganz so einfach ist das nicht. Die Kunst der Kombination ist wichtig im kreativen Denken, aber bei Weitem nicht das ganze Geheimnis. Es kommt eben darauf an, sogenannte Möglichkeitsräume zu erforschen und zu verändern. Wie das geht, lässt sich in ein paar Zeilen leider schlecht erklären. Aber wenn Sie mehr erfahren wollen – dann gibt es ja mein Buch!

Nach einer romantischen Vorstellung schöpfen Genies grosse Ideen aus sich selbst. Sie schreiben: ‹Viele Menschen, die mit ihren Ideen die Welt veränderten, waren keineswegs mit spektakulären Geistesgaben bedacht.› Sind kreative Genies ein Mythos?

So ist es. Charles Darwin, der mit seiner Evolutionstheorie die ganze Vielfalt der Natur erklärte und die Sicht auf das Leben für immer verwandelte, hat einmal bekannt, seine Lehrer und Eltern hätten ihn als ‹einen ganz gewöhnlichen Jungen, eher von etwas unterdurchschnittlichem Intellekt› angesehen. Und damit stapelte er keineswegs tief. Wir wissen heute, dass Kreativität nie durch einsames Grübeln eines überbegabten Gehirns hinter verschlossenen Türen entsteht, sondern im Gespräch zwischen den Menschen. Keiner denkt für sich allein. Auch der junge Albert Einstein hatte einen Kreis von Freunden, mit denen er regelmässig seine Gedanken für die Relativitätstheorie diskutierte, als er in Bern lebte.

In Krisenzeiten ist Kreativität gefordert. Wie hat die Pandemie unser kreatives Denken beeinflusst?

Die Pandemie hat viele Gewohnheiten infrage gestellt, zwingt uns auch, mit manchen Gewohnheiten zu brechen. Das kommt unserem schöpferischen Denken durchaus zugute, häufig sind wir in den Lösungen gefangen, die wir schon kennen, aber nicht unbedingt die besten sind. Gewohnheit erzeugt viele Blockaden. Andererseits erschwert uns die Pandemie die Begegnung mit anderen Menschen. Das ist durchaus ein Problem, denn viele gute Ideen haben wir im Gespräch, wenn wir gar nicht darauf abgezielt haben, besonders schöpferisch zu sein. Zum Glück haben wir heute viele Möglichkeiten, uns über Telekommunikation auszutauschen, ohne dass wir uns körperlich begegnen. Und auch diese Pandemie wird vorübergehen. Was bleiben wird, ist die Erfahrung, wie wir uns unter dramatisch veränderten Umständen einrichten können. Diese Erfahrung ist sehr wertvoll.

Kann man Kreativität lernen oder sogar weitergeben?

Was Sie Ihren Kindern weitergeben können, ist Lust auf Neues. Und Selbstvertrauen. Und die Bereitschaft, einen langen Atem zu haben und sich nicht unterkriegen zu lassen. Denn wer schöpferisch sein will, muss dafür immer gewisse Risiken einsehen, Rückschläge ertragen, auch damit rechnen, dass seine Mitmenschen ihm nicht sofort folgen. Das Beste, was Sie für das schöpferische Denken Ihrer Kinder tun können, ist also ein Feuer der Begeisterung in ihnen zu entfachen, das stärker ist als die unvermeidlichen Frustrationen. Und dieses Feuer der Begeisterung können Sie auch in sich selbst entfachen.


Buchtipp: «Wie wir die Welt verändern», von Stefan Klein, erschienen im S. Fischer Verlag, um die 30 Franken.