Jakobsweg füllt sich wieder«Es hilft einem, alles hinter sich zu lassen»
Von Joseph Wilson und Iain Sullivan, AP
13.6.2021 - 13:54
Auch die Pilger nach Santiago de Compostela im Nordwesten Spaniens hat die Coronapandemie ausgebremst. Jetzt machen sie sich wieder auf den Weg, viele auch, um Stress und Leid der vergangenen Monate aufzuarbeiten.
Von Joseph Wilson und Iain Sullivan, AP
13.06.2021, 13:54
Joseph Wilson und Iain Sullivan, AP
Alltag und Hektik entkommen, auf die innere Stimme hören: Schon immer zieht der Jakobsweg Pilger auf der Suche nach einer Auszeit oder einer Wende im Leben an – in Corona-Zeiten für viele nun nötiger denn je.
«Es hilft einem, alles hinter sich zu lassen», sagt Laura Ferrón, die sich mit zwei Freundinnen auf den Weg nach Santiago de Compostela im äussersten Nordwesten Spaniens gemacht hat. Ihre Ehe ging während der Pandemie-Zeit in die Brüche. Zugleich bangt die junge Frau um ihren Job in einer Bank, die massive Entlassungen plant. «Die Pandemie hat uns gelehrt, das, was wir haben, mehr zu schätzen», betont die 33-Jährige.
Gemeinsam mit ihren Begleiterinnen legt sie die letzten 100 Kilometer bis Santiago zurück. Dort endet der Jakobsweg – eigentlich ein Netz von Pilgerwegen durch Europa, die zum angeblichen Grab des Apostels Jakobus in der mittelalterlichen Kathedrale der Stadt führen.
Zahl der Pilger steigt wieder deutlich an
Reisebeschränkungen und andere Corona-Massnahmen bremsten die Pilger seit vergangenem Jahr aus. Jetzt schnüren die Gläubigen wieder ihre Wanderschuhe. Manche laufen nur die letzten Kilometer und sind nur ein paar Tage unterwegs wie Laura. Andere folgen wochen- oder gar monatelang dem Weg mit dem Zeichen der Jakobsmuschel.
Mehr als 340'000 Wanderer waren es 2019 auf dem Jakobsweg. Im vergangenen Jahr fiel die Zahl auf etwa 50'000 zurück, weil die strengen Corona-Reisebeschränkungen nur in den Sommermonaten gelockert waren.
Bis nun am 9. Mai der Corona-Notstand aufgehoben wurde, kamen täglich nur eine Handvoll inländischer Wanderer im Pilgerbüro von Santiago de Compostela vorbei, um sich den Abschluss ihrer mühsamen Reise offiziell bescheinigen zu lassen. Jetzt wächst die Zahl der Pilger wieder deutlich an. Auch aus dem europäischen Ausland machen sich wieder Gläubige auf, unbeeindruckt davon, dass so manche der Herbergen und Pensionen am Weg noch geschlossen sind.
Ein paar Hundert Pilger sind es mittlerweile pro Tag. In Hochzeiten waren bislang im Sommer mehrere Tausend Wanderer auf den Strassen der Stadt zu sehen.
Psychologen bestätigen positive Effekte des Pilgerns
Die Ursprünge der Pilgerschaft nach Santiago de Compostela liegen im 9. Jahrhundert, als die Entdeckung des Jakobus-Grabs dort verkündet wurde. Richtig populär wurde die Route für Gläubige und andere Wanderwillige besonders in den vergangenen Jahrzehnten. Eine Entscheidung von Papst Franziskus könnte nun ein zusätzlicher Anreiz für der Tradition verbundene Katholiken sein: Das Kirchenoberhaupt verlängerte das in diesem Jahr anfallende «Heilige Jakobusjahr» bis Ende 2022. In einem solchen Jahr können Katholiken mit dem Pilgern nach Compostela den Vorstellungen zufolge einen Ablass ihrer Sünden erwerben.
Der Erzbischof von Santiago, Julián Barrio, zeigt sich vorsichtig optimistisch, dass es in diesem Jahr wieder 300'000 Pilger werden könnten – wenn die Pandemie keinen Strich mehr durch die Rechnung macht und die Impfungen zunehmen. Viele kämen dann, um Trost nach dem Schmerz der Pandemie zu schöpfen, meint Barrio. Der Jakobsweg sei «ein Ort, der hilft, unseren inneren Frieden, unsere Stabilität wiederzuerlangen und unseren Geist gesunden zu lassen.»
Psychologen bestätigen, dass das Pilgern emotionale Heilung bringen kann – nicht nur für gläubige Katholiken. Laut ersten Studienergebnissen übersteige die Reduzierung von Stress und Depressionen das Mass, das in normalen Urlauben verzeichnet werde, sagt Albert Feliu von der Autonomen Universität Barcelona.
«Der Jakobsweg ist ein sehr guter Ort, uns wahrnehmen zu lassen, dass Leiden zum Leben gehört und dass unser Leiden davon abhängt, wie wir mit dem, was wir durchmachen, umgehen», erklärt Manu Mariño vom Quietud-Zentrum in Santiago, der ebenfalls an der mehrjährigen Studie von Forschern spanischer und brasilianischer Hochschulen beteiligt ist. Selbst war Mariño schon zwei Dutzend Mal auf dem Jakobsweg unterwegs. «Man lernt, mit dem Notwendigsten zu leben», sagt Mariño, «und das heisst genau mit dem, was man in einem Rucksack tragen kann.»
Auch für die 81-jährige Naty Arias gab Corona den Anstoss zum Aufbruch nach Santiago de Compostela, wenn auch aus anderem Grund. «Für alte Menschen hat sich ein Jahr Pandemie wie fünf Jahre angefühlt», sagt sie. «Uns bleibt nicht mehr viel Zeit, also müssen wir jetzt das Meiste daraus machen.» Arias wird begleitet von zwei ihrer Töchter – und von ihrem 84-jährigen Mann.
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