Argentinien Liechtensteinerin erzählt über den längsten Lockdown der Welt

Von Jennifer Furer

23.7.2020

Gabriella Alvarez-Hummel verbringt die Corona-Krise in Argentinien von einem Airbnb ins nächste ziehend.
Gabriella Alvarez-Hummel verbringt die Corona-Krise in Argentinien von einem Airbnb ins nächste ziehend.
zVg

Die Liechtensteinerin Gabriella Alvarez-Hummel verbringt die Corona-Krise in Argentinien. Dort herrscht seit vier Monaten Lockdown. Wie sich das anfühlt und wieso sie nicht nach Hause kommt, erzählt sie im Interview.

Drei Jahre lang reiste die Liechtensteinerin Gabriella Alvarez-Hummel mit ihrem Mann in einem VW-Bus von Nord- nach Südamerika. Das Vorhaben stiess auf grosses öffentliches Interesse. Medien aus aller Welt berichteten über das aussergewöhnliche Abenteuer.

Während ihrer Reise haben sich Alvarez-Hummel und ihr Mann selbstständig gemacht und eine Textagentur mit Sitz in Zürich gegründet – «digitale Nomaden» nannte ein Reisemagazin die beiden. Denn sie leben vor, was künftig Usus sein könnte: digital arbeiten, von wo auf der Welt man will, aber trotzdem durch eine Firma ein festes Standbein haben.

Die Reise brachte Alvarez-Hummel und ihren Mann nach Argentinien. Das Land, aus dem die Eltern der Liechtensteinerin stammen – und wo heute noch einige Verwandte von ihr leben. Das Land gefalle den beiden so gut, dass sie eine Wohnung dort gekauft haben – um künftig zwischen Buenos Aires und Zürich zu pendeln.

Dreieinhalb Jahre reisten Gabriella Alvarez-Hummel und ihr Mann Sandro Alvarez-Hummel im VW-Bus.
Dreieinhalb Jahre reisten Gabriella Alvarez-Hummel und ihr Mann Sandro Alvarez-Hummel im VW-Bus.
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Das bedeutet aber nicht das Ende ihrer Reiselust. Eigentlich hätten Alvarez-Hummel und ihr Mann dieses Jahr viel vorgehabt. Auf dem Plan standen Reisen nach Brasilien und in die USA. Dann kam die Corona-Krise. Seit fast vier Monaten verbringt Alvarez-Hummel ihre Zeit deshalb in Buenos Aires, von einem Airbnb ins nächste ziehend.

Wie fühlt sich die längste Ausgangssperre der Welt an?

Es ist schwierig, das in Worte zu fassen, wenn man sich mittendrin befindet. Man gewöhnt sich irgendwie an die Situation – aber auf eine komische Art und Weise.

Wann haben Sie sich mit der Situation abgefunden?

Nach etwa zwei Monaten. Ab da habe ich gar nicht mehr daran gedacht, wie es anders sein könnte. Es ist zentral, sich auf den Moment zu konzentrieren. Würde man die ganze Zeit hinterfragen, was gerade passiert, würde man wahnsinnig.

Wie strikt ist der Lockdown?

Es ist extrem streng. Wer aus einem falschen Motiv auf die Strasse geht, wurde in den ersten Wochen und Monaten verhaftet. Einkaufen oder medizinische Termine waren bisher erlaubt. Mehr nicht. Auch spazieren war untersagt. Kinder dürfen seit ein paar Wochen am Wochenende raus. Auch Parks sind alle geschlossen.

Das tönt extrem anstrengend.

Ja, und man merkt es den Leuten an. Langsam halten sie sich auch nicht mehr so strikt an den Lockdown, weil sie es nicht mehr ertragen. Jeden Tag hat es mehr Leute auf den Strassen. Praktisch alle tragen dabei immer eine Maske. An diese Pflicht hält man sich hier ohne grosses Murren.

Um an die frische Luft zu kommen, holen Gabriella und Sandro regelmässig die Hunde von Freunden oder von der Cousine von Gabriella.
Um an die frische Luft zu kommen, holen Gabriella und Sandro regelmässig die Hunde von Freunden oder von der Cousine von Gabriella.
zVg

Sie sind sehr reisefreudig und jetzt sozusagen eingesperrt. Wie funktioniert das?

Ich habe das Gefühl, dass das Reisen mir geholfen hat, mit einer solchen Situation zurechtzukommen. Als mein Mann und ich im VW-Bus unterwegs waren, waren wir oft eine lange Zeit nur zu zweit, weit weg von der Zivilisation. Wir haben also damals schon gelernt, gut miteinander klarzukommen und vor allem auch gut miteinander zu kommunizieren.

Das tönt sehr versöhnlich.

Ja, aber ich muss schon zugeben, dass es einen Moment gebraucht hat, sich mit diesem Lockdown abzufinden und zu realisieren, dass dieses Jahr in Sachen Reisen gar nichts mehr geht.

Habt ihr euch also damit abgefunden, dass eure Pläne geplatzt sind?

Jetzt ist es okay, ja. Das liegt auch daran, dass viele eigene Sorgen relativiert werden, wenn man mitbekommt, dass es viele Menschen hier sehr, sehr hart trifft. Jedes Mal, wenn wir kurz auf die Strasse gehen, um einzukaufen, sehen wir mehr Leute, die auf der Strasse leben müssen.

Weil sie ihren Job verloren haben?

Während des Lockdowns war arbeiten kaum möglich. Ab August können etwa 80 Prozent der Menschen, die noch über eine Arbeit verfügen, wieder ihrem Job nachgehen. Viele Leute haben aber ihre Anstellung oder ihr Unternehmen verloren. Denn so etwas wie Kurzarbeit gibt es in Argentinien nicht. In unserem Quartier sehen wir jeden Tag Menschen, die ihre Läden oder Cafés ausräumen, weil sie schliessen müssen. Man fragt sich schon, wie Leute überleben werden. Ich weiss es nicht.

Gibt es gar keine Unterstützung vom Staat?

Es gibt beispielsweise ein kleines Guthaben für Familien, die gar kein Einkommen haben. Das Geld reicht knapp, um für einen Monat Nahrungsmittel zu kaufen, die Miete ist damit aber noch nicht bezahlt. Es gibt Organisationen, die sich nun für diese Menschen einsetzen. Auch ich habe mich einer angeschlossen.

Was tun Sie konkret?

Dass ich etwas für Menschen mache, die Hilfe benötigen, ist meine Art und Weise, mit der Krise umzugehen. Ich habe mich bei einer Organisation gemeldet, die Essen und Kleidung verteilt. In Argentinien ist jetzt Winter. In der Nacht wird es oftmals kalt. Ich kann leider nicht persönlich vor Ort helfen, weil es zu weit weg ist. Aber ich unterstütze die Organisation, indem ich auf den sozialen Medien Fragen beantworte und Spenden online entgegennehme.

Die Situation scheint jetzt schon prekär. Was wird die Corona-Krise für langfristigste Folgen für Argentinien haben?

Argentinien schlittert seit ein bis zwei Jahren knapp am Staatsbankrott vorbei. Die Inflation ist in den letzten zwei Jahren sehr hoch gewesen – und sie nimmt durch die Corona-Krise zu. Der Peso ist kaum mehr etwas wert. Für uns ist jetzt alles extrem günstig, aber für die Menschen hier bedeutet das eine Katastrophe. Alle Leute, mit denen wir sprechen, fragen sich, wie Argentinien sich aus dieser Situation retten kann.

Freiwillige verteilen Essen an Kinder und Erwachsene, die auf Unterstützung angewiesen sind.
Freiwillige verteilen Essen an Kinder und Erwachsene, die auf Unterstützung angewiesen sind.
AP/Natacha Pisarenko

Wieso denken Sie, hat Argentinien sich für diesen strikten Lockdown entschieden, obwohl es dem Land wirtschaftlich ohnehin nicht gut geht?

Argentinien war das erste Land in Südamerika, das komplett dicht gemacht hat – und zwar von einem Tag auf den anderen. Ich vermute, dass es damit zu tun hat, dass Argentinien eine recht intensive Beziehung zu Europa hat. Viele Argentinier haben Verwandte in Spanien und Italien. Man bekommt deshalb sehr gut mit, was in diesen Ländern passiert. Spanien und Italien sind bekanntlich sehr stark von der Corona-Krise betroffen und es gab dort deshalb einen strikten Lockdown. Ich denke, dass man gesehen hat, wie diese Länder agieren und man hat entsprechend reagiert.

War auch eine gewisse Angst vorhanden, dass die Pandemie Argentinien überrannt?

Absolut. Viele Argentinier, die nach Spanien und Italien gereist sind, haben das Virus nach Argentinien gebracht. Man hat deshalb seit April keine Flüge mehr durchgeführt. Es bestand auch die Angst vor einem Kollaps des Gesundheitssystems.

Inwiefern?

Wir hatten die ersten beiden Monate vielleicht hundert Fälle pro Tag. Das ist eigentlich nichts im Vergleich zu anderen Ländern. Die Angst vor dem Kollaps war aber so gross, dass man die Kurve stark und schnell abflachen wollte. Das Gesundheitssystem in Argentinien ist öffentlich, das heisst, gratis für alle – und damit auch ohne Corona schon überfordert.

Das tönt nach einer prekären Lage. Wieso sind Sie nicht in die Schweiz zurückgereist?

Wir hätten zurückkommen können. Ich als Liechtensteinerin hätte mit den Schweizern zurückfliegen dürfen. Ich und mein Mann haben uns aber dagegen entschieden. Aus zwei Gründen.

Diese wären?

Erstens, weil wir in Argentinien unsere Wohnung haben, die wir am Umbauen sind. Wegen Corona ist die Baustelle seit März festgefroren. Wir hoffen, dass wir die Wohnung dennoch zeitig fertigkriegen. Am August sollen Baustellen wieder erlaubt werden.

Und der zweite Grund?

Wir sind selbstständig und das Leben hier ist viel günstiger als in der Schweiz. Corona hat auch unserer Auftragslage nicht gerade gutgetan. Es ist deswegen viel einfacher für uns, die Zeit hier zu überstehen als in Zürich, wo das Leben viel teurer ist.

Vermissen Sie Ihre Freunde und Familie zu Hause?

Wir haben auf unserer dreijährigen Reise gelernt, wie man damit umgehen kann. Aber logisch vermissen wir unsere Leute. Das ist auch der Grund, wieso es uns immer wieder zurückzieht. Wir haben geplant, im Februar in die Schweiz zurückzukehren – sofern Corona das zulässt. Es ist also absehbar. Viel schlimmer finde ich momentan, dass ich derzeit niemanden persönlich treffen kann.

Sie haben seit vier Monaten niemanden getroffen ausser Ihren Mann?

Wir haben meine Cousine drei oder vier Mal persönlich getroffen. Das haben wir heimlich gemacht. Das war aber extrem schwierig, weil die Leute in den Häusern einen kennen. Wenn dann jemand durchläuft, der fremd ist, ist das nicht so gut. Denn es gibt gewisse Leute, die sehr Angst haben.

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Waren Sie schon einmal in Argentinien?

Was macht ihr den ganzen Tag so?

Arbeiten, lesen, kochen. Wir probieren auch, uns zu bewegen, damit wir nicht komplett einrosten. Und ich bin sowieso jemand, der gerne neue Hobbys ausprobiert. Derzeit besuche ich online einen Aquarell-Kurs. Zuvor habe ich bereits an einem Online-Literaturkurs des lateinamerikanischen Museums teilgenommen.

Was war schwieriger: den Geist oder den Körper fit zu halten?

Ich habe mir extrem viel Mühe gegeben, mental keinen Schaden davon nehmen. Ich schreibe jeden Tag Tagebuch und wir sprechen viel miteinander. Wir probieren Gedanken, die aufkommen, nicht in uns reinzufressen. Wenn so wenig Input von aussen kommt, hat man sehr viel Zeit, um nachzudenken. Da muss man aufpassen, dass das nicht in einer komischen Spirale endet.

Und wie geht es Ihnen körperlich?

Ich habe eine sogenannte Skoliose, eine Wirbelsäulenverkrümmung. Für mich war es gar nicht gut, so viel drinnen zu sein und mich nicht zu bewegen. Vor etwa zwei Monaten bin ich eines Morgens aufgestanden und konnte mich nicht mehr bewegen. Zum Glück habe ich einen Osteopathen gefunden, der geöffnet hatte. Er darf dies, weil er medizinisch tätig ist. Ohne ihn würde es nicht gehen. Auch anderen nicht: Er berichtet, er behandle viele Menschen mit Rückenproblemen wegen des Bewegungsmangels.

Joggen ist mittlerweile ab 18 Uhr jeden zweiten Tag erlaubt.
Joggen ist mittlerweile ab 18 Uhr jeden zweiten Tag erlaubt.
EPA/Juan Ignacio Roncoroni 

Sind erste Lockerungen absehbar?

Es gibt seit dieser Woche einen Plan: Alle ein bis zwei Wochen gibt es neue Lockerungen. In zwei, drei Monaten wird wieder alles mehr oder weniger normal sein. Seit Montag befinden wir uns in der dritten Phase. Kinder dürfen jeden Tag raus und Joggen ist ab 18 Uhr jeden zweiten Tag erlaubt. Man darf nun auch nicht essenzielle Sachen einkaufen gehen. Spazieren ist aber immer noch verboten.

Machen es die Leute trotzdem?

Es kann dir niemand nachweisen, dass man nicht einkaufen, sondern spazieren geht. Ich glaube, ein Bild wird hier in die Geschichte eingehen: Menschen, die mit Mundschutz alleine durch die Strassen schlendern und dabei einen leeren Sack in der Hand halten, damit es so aussieht, als würden sie einkaufen gehen. Mittlerweile hält jede und jeder einen solchen in der Hand. Das sieht lustig aus. Ich wünschte, ich könnte Comics zeichnen.

Was nehmen Sie sonst noch aus dieser Zeit mit?

Demut und Dankbarkeit. Ich bin sehr dankbar, einen Partner zu haben, mit dem ich gerne und gut viel Zeit verbringen kann. Ich bin aber auch sehr dankbar, dass ich aus einem privilegierten Land komme, wo ich Schweizer Franken verdiene, die viel Wert sind – überall auf der Welt. Und ich bin auch dankbar, dass ich jederzeit zurück in die Schweiz kommen könnte. Und, dass man mich dort nicht auf Strasse stellt, wenn ich meine Miete nicht bezahlen kann. Es hätte auch anders kommen können. Weil meine Eltern aus Argentinien stammen, wäre es gut möglich gewesen, dass ich hier aufwachse. Dann wären meine Chancen und Möglichkeiten ganz andere gewesen.

Was hat Ihnen am meisten gefehlt?

Laufen, meine Füsse zu bewegen. Am liebsten irgendwo, wo es grün ist. Ich habe seit vier Monaten keinen Rasen mehr berührt. Wenn der Lockdown weiter gelockert wird, ist das erste, was ich tue, mich im Park im Gras wälzen. Und ich werde zum Coiffeur gehen. Dafür habe ich bereits einen Termin im August.

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