Aus einer Studie wird ein TrendWenn Eltern das Kinderkriegen bereuen
toko
28.9.2023
Seit einer kleinen Studie der Soziologin Orna Donath sprechen mehr und mehr Menschen darüber, das Elternsein zu bereuen. Eine Rundreise durch die Online-Community Reddit.
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28.09.2023, 19:14
28.09.2023, 19:40
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Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Eine 2015 erschiene Studie einer israelischen Soziologin über Frauen, die das Muttersein bereuen, erhält 2015 viel Aufmerksamkeit.
Seitdem ist das Phänomen in den Vordergrund gerückt, immer Menschen bringen den Mut auf, über das Tabuthema zu sprechen.
Auf der Online-Plattform sind mehrere lebhafte Communitys entstanden, auf denen Betroffene ihre Gefühle aussprechen können.
Alles begann mit einer Studie der israelischen Soziologin Orna Donath. 2015 interviewte sie 23 Frauen, die es bereuen, sich für Nachwuchs entschieden zu haben.
Donaths kleine qualitative Analyse brachte einen Stein ins Rollen und löste neben weiteren Studien auch eine gesellschaftliche Debatte aus.
Darf man das?
Diskussion findet online statt
Im Internet jedenfalls schon. Lebhaft debattiert wird das Thema vor allem auf Reddit, einer Art Mischung aus klassischem Online-Forum und sozialem Netzwerk. Gleich mehrere Subreddits genannte Unterforen beschäftigen sich mit dem Phänomen, aus «Regretting Motherhood» (‹Bereuen der Mutterschaft›) wird «Regretting Parenthood» (‹Bereuen der Elternschaft›) oder auch «Childfree» (‹Kinderlos›).
In diesen Online-Gemeinschaften wird die Problematik aus den unterschiedlichsten Perspektiven beleuchtet. Es geht etwa um «normale» Probleme im Alltag mit Kindern, ob diese das eigene Bereuen spüren, bis hin zu philosophischen Fragen, etwa ob die moderne westliche Gesellschaft das Elternsein zur Hölle macht.
Noch immer ein Tabu
Sehr viele Poster*innen wollen sich jedoch einfach den Frust von der Seele schreiben, gehört werden. Denn die eigene Elternschaft zu bereuen oder dies gar auszusprechen ist noch immer ein Tabu. Schnell wird unterstellt, die eigenen Kinder nicht zu lieben oder generell kaltherzig zu sein.
Doch so einfach ist es nicht.
Bereits in Donaths Pionier-Studie gab der Grossteil der befragten Mütter an, ihre Kinder zu lieben, die Mutterschaft gleichwohl zu bereuen.
Psycholog*innen betonen, wie wichtig es ist, offen über das Thema sprechen zu können. Denn die eigene Elternschaft zu bereuen heisst mitnichten, eine schlechte Mutter oder ein schlechter Vater zu sein.
So kann allein das Aussprechen der Belastung für manche Erleichterung bringen. Eine Userin auf Reddit schreibt: «Wow, ich bin so froh, diese Gemeinschaft gefunden zu haben. Ich habe so lange einen Raum gesucht, in dem ich ehrlich sein kann.»
Ein weiterer User beklagt sich über den gesellschaftlichen Druck, dem auch Väter ausgesetzt seien: «Ich bin ganz neu hier und ich habe bereits Tränen in den Augen, während ich einige Eurer Geschichten lese. Ich fühle mich, als ob ich sie geschrieben hätte.»
In den USA, aber auch in Europa wurde zumindest eine Debatte über ein Thema gestartet, dass zuvor als unaussprechlich galt. Die Soziologin wurde selbst massiv angefeindet und zeigte sich erstaunt über den Medien-Hype, den sie ausgelöst hatte.
In Europa wurde die Diskussion um Regretting Motherhood vor allem in Deutschland heftig geführt, wo Donaths Studie viel Aufmerksamkeit erhielt. Gut möglich, dass deshalb die grössten derartigen Befragungen in dort durchgeführt wurden.
So ergab bereits im Folgejahr eine repräsentative Studie mit über 2000 Teilnehmer*innen , dass das Phänomen in Deutschland nicht nur unter Müttern, sondern in etwa gleichem Masse auch unter Vätern auftritt. Rund 19 Prozent der Frauen sowie 20 Prozent der Männer gaben an, sie würden keine Kinder mehr bekommen, wenn sie sich nochmals entscheiden könnten.
«Unmenschliche Erwartungen»
Sicher, auch Väter können ihre neue Rolle bereuen. Für Mütter ist das Tabu jedoch ungleich grösser, gilt doch das Frau-Sein selbst in den vermeintlich aufgeklärten westlichen Gesellschaften mitunter als Synonym für Mutter-Sein.
So schreibt die Soziologin unter anderem, Frauen würden unter den «unmenschlichen Erwartungen» leiden, die an sie gestellt werden. Alle befragten Frauen aus unterschiedlichen sozialen Schichten gaben an, in ihrer Mutterrolle gefangen zu sein. Einige von ihnen waren bereits Grossmütter, die Kinder längst aus dem Haus.
Ähnliche Erfahrungen beschreiben auch viele Frauen auf Reddit. «Ich liebe meine Tochter, aber ich hasse es, Mutter zu sein», schreibt eine von ihnen. «Wenn es eine Sache in meinem Leben gibt, die ich rückgängig machen würde, ist es Mutter zu werden», beklagt eine andere.
Im echten Leben wohl nie erzählt
Nach Donaths Pionier-Arbeit folgten viele weitere Studien in verschiedenen Disziplinen. Die Forschung zum Thema steckt gleichwohl noch immer in den Kinderschuhen, ebenso wie die Akzeptanz in der Gesellschaft.
Denn so unterschiedlich die Geschichten zum Phänomen Regretting Parenthood auf Reddit auch sind: Gemeinsam ist fast allen, dass sie im echten Leben wohl nie erzählt worden wären.