Ukrainische Kriegsgefangene in Russland «Die Soldaten haben noch nie von den Genfer Konventionen gehört»

klm

8.2.2024

Ein Ukrainer weint nach einem Gefangenenaustausch am 31. Januar in eine ukrainische Flagge. 
Ein Ukrainer weint nach einem Gefangenenaustausch am 31. Januar in eine ukrainische Flagge. 
IMAGO/APAimages

Über 10'000 ukrainische Soldat*innen und Zivilist*innen sollen in Russland in Gefangenschaft sein. Zwei ehemalige Kriegsgefangene haben nun über ihre Haftbedingungen gesprochen.

klm

8.2.2024

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Die Genfer Konventionen sollen eigentlich weltweit Kriegsgefangene vor Misshandlungen und Folter schützen.
  • Wie zwei ehemalige Kriegsgefangene von Russland sagen, sollen sich die Soldaten bei der Behandlung der Ukrainer*innen nicht daran gehalten haben. 
  • In einem Bericht der NZZ erzählen sie von extremen Haftbedingungen und Verhören mithilfe von «Hunden, Schlägen und Elektroschocks». 

«Die Kriegsgefangenen müssen jederzeit geschützt werden, namentlich auch vor Gewalttätigkeit oder Einschüchterung, Beleidigungen und der öffentlichen Neugier.»

Dieser Satz steht im zweiten Paragraf von Artikel 13 des Dritten Genfer Abkommens, das nach dem Zweiten Weltkrieg von allen Ländern der Welt unterschrieben wurde. Auch die Sowjetunion – und nach deren Fall Russland als Rechtsnachfolgerin – bekräftigte, sich daranzuhalten. 

Laut zwei russischen Kriegsgefangenen, die mit der NZZ sprachen, habe diese Verpflichtung aber nicht viel mit der Realität zu tun.

Ukrainer war fast ein Jahr in Gefangenschaft

«Davon haben die in der Ukraine eingesetzten russischen Soldaten noch nie gehört», sagt etwa ein Mann, den die Zeitung nur mit seinem Vornamen Serhi nennt. Fast ein Jahr war der Infanteriesoldat in russischer Gefangenschaft. Nach einem Gefangenenaustausch kam er im Februar 2023 frei und traf sich in Warschau mit dem Journalisten. 

Serhi kämpfte bei Mariupol und wurde dort verletzt. Als die Stadt an die russischen Besatzer fiel, lag er in einem Spital beim umkämpften Asowstal-Werk. «Wir alle kamen nach Oleniwka bei Donezk in die Filtration. Dort gab es keine medizinische Betreuung», erzählt der Soldat. Zwar seien Schwerverletzte in ein Spital nach Donezk gebracht worden, Gefangenen wie ihm sollen aber lediglich die Mitgefangenen, ukrainischen Sanitäter geholfen haben. 

Im Gefangenenlager Oleniwka seien Verhöre Alltag gewesen, beschreibt auch die zweifache Mutter Jana der NZZ. Die russischen Truppen sollen dabei Hunde, Schläge und Elektroschocks eingesetzt haben, wie auch Serhi bestätigt. Jana habe als Militärpsychologin in der Nationalgarde gedient und wurde ebenfalls beim Asowstal-Werk gefangen genommen. «Keine psychologische Ausbildung, keine Lebenserfahrung kann einen auf die Kriegsgefangenschaft vorbereiten», so die Mittvierzigerin. 

Die Gefangenschaft in Oleniwka habe sie grösstenteils in einer engen Zelle verbracht. Auf zwölf Quadratmetern seien 27 bis 29 Frauen eingesperrt gewesen, Freigang habe es nicht gegeben. Mit Fehlangaben sollen ihre Wärter versucht haben, sie zu brechen: «Die russischen Bewacher behaupteten fortlaufend, Kiew habe kapituliert, die Ukraine existiere nicht mehr.» Als ein männlicher Gefangener aus einem russischen Radio überhört habe, dass der Kampf immer noch laufe, sei die Nachricht «erlösend» gewesen. 

Wie Serhi weiter ausführt, seien die Gefangenen auch zu Arbeitseinsätzen gezwungen worden. Er selbst habe im Hochsommer in Mariupol Massengräber ausheben und menschliche Überreste in den Einfamilienhausquartieren in Leichensäcke verpacken müssen. «Es war sehr traurig und hat mich enorm belastet», so Serhi. «Gefangene dürfen keine Arbeit leisten, die mit dem Krieg zu tun hat», steht in den Genfer Konventionen.

Serhi habe vier Monate in Oleniwka verbracht. Danach sei er zusammen mit anderen ukrainischen Soldat*innen und Zivilist*innen unter dem Vorwand eines Gefangenenaustausches in ein Gefängnis in der südrussischen Stadt Kamyschin gebracht worden. Serhi: «Die Verhöre gingen in Russland weiter, alles wurde noch schlimmer, noch brutaler.»

Schuldgefühle wegen Freilassung

Nach fast einem Jahr in Gefangenschaft sei Serhi dann tatsächlich freigelassen worden. «Wir waren etwa 30, endlich durfte ich meine Frau anrufen», erinnert er sich in Warschau im Gespräch mit der NZZ. Jana sei schon nach vier Monaten freigelassen worden, als eine der ersten ukrainischen Kriegsgefangenen. Bis heute plagen sie deswegen Schuldgefühle: «Wieso gerade ich?» Ihr Ehemann befinde sich immer noch in Kriegsgefangenschaft. 

Wie viele Soldat*innen und Zivilist*innen auf beiden Seiten in Kriegsgefangenschaft sind, ist nicht bekannt. Offizielle Bestätigungen gibt es weder von der russischen noch der ukrainischen Regierung. Laut «Forbes» könne die Zahl der ukrainischen Gefangenen aber über 10'000 betragen. 

Im Januar 2024 kam es zum grössten Gefangenenaustausch im Konflikt bisher. In einem Deal, den die Vereinigten Arabischen Emirate mitorganisiert hatten, wurden über 200 Ukrainer*innen und Russ*innen ausgetauscht. Viele der ukrainischen Soldaten waren dabei in die Kämpfe um das Asowstal-Stahlwerk in Mariupol involviert gewesen. 

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