Ein Monat nach der Rückeroberung Nichts ist normal in Cherson

Von Inna Varenytsia und Jamey Keaten, AP

11.12.2022 - 17:20

Ein zerstörtes gepanzertes Fahrzeug steht am Rand eines Feldes in Cherson im Süden der Ukraine.
Ein zerstörtes gepanzertes Fahrzeug steht am Rand eines Feldes in Cherson im Süden der Ukraine.
Archivbild: Bernat Armangue/AP/dpa

Vor allem die von den russischen Besatzern zurückgelassenen Minen bereiten grosse Probleme. Auch der andauernde Beschuss zermürbt die verbliebenen Einwohner der Stadt im Süden der Ukraine.

DPA, Von Inna Varenytsia und Jamey Keaten, AP

Ein Strassenschild weist Autofahrer geradewegs in ein Minenfeld, in Haushaltsgeräten lauern Handgranaten. Eine Polizeistation ist so mit Sprengfallen gespickt, dass Ermittler dort keine Beweise für mögliche Menschenrechtsverstösse suchen können: Willkommen in Cherson einen Monat nach dem Abzug der Russen. Die Ukrainer haben ihn gross gefeiert, doch das Leben in der Stadt am Dnipro ist alles andere als normal.

Die nach acht Monaten vertriebenen Besatzer haben alle möglichen hässlichen Überraschungen hinterlassen. Ihre Geschütze beschiessen die Stadt vom anderen Flussufer aus. Nach Angaben der Stadtverwaltung vom Samstag wurden dabei seit dem Abzug 41 Menschen getötet, darunter ein Kind. 96 Verletzte kamen ins Krankenhaus.

Ein während eines russischen Angriffs zerstörtes Gebäude in Cherson.
Ein während eines russischen Angriffs zerstörtes Gebäude in Cherson.
Archivbild: Bernat Armangue/AP/dpa

Elektrischen Strom gibt es nur zeitweise. Immerhin haben die meisten Häuser wieder fliessend Wasser. Sogar die Beheizung wurde kürzlich wiederhergestellt, allerdings nur in 70 bis 80 Prozent der Stadt. Bei ihrer Flucht hatten die Russen ein grosses Heizwerk in die Luft gejagt.

Dauerbeschuss vom anderen Ufer des Dnepr

Bürger und Behörden sehen sich jeden Tag ungezählten Gefahren und Problemen gegenüber, die ihnen die Besatzer hinterlassen haben, und bereiten sich auf neue Überraschungen vor. Allein am Freitag hätten die Russen Cherson 68 Mal mit Granatwerfen, Geschützen, Panzern und Raketen beschossen, berichten örtliche Medien. Der Sender Suspilne meldet, im November hätten 5500 Einwohner mit Evakuierungszügen die Stadt verlassen.

Menschen in Cherson stehen um Hilfsgüter an

Menschen in Cherson stehen um Hilfsgüter an

Die meisten Menschen in Cherson scheinen glücklich über die Rückeroberung der Stadt durch die ukrainische Armee, doch es gibt kaum fliessendes Wasser, vielerorts gibt es keinen Strom mehr – und bei den meisten ist zusätzlich die Heizung ausgefallen.

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Als kurz nach dem Abzug der Russen Lastwagen mit Hilfsgütern kamen, strömten die kriegsmüden Einwohner auf dem zentralen Freiheitsplatz zusammen, um Nahrungsmittel zu erstehen. Doch Ende November traf ein russischer Angriff eine Menschenschlange vor einem Bankgebäude auf dem Platz. Seither sind grosse Menschenansammlungen seltener geworden. Hilfsgüter werden an unauffälligeren Stellen verteilt.

Cherson gleicht einer Geisterstadt

Örtliche Regierungsvertreter sagen, dass nach dem Einmarsch der Russen etwa 80 Prozent der einst etwa 320’000 Einwohner geflohen seien. Mit jetzt vielleicht noch 60’000 bis 70’000 Menschen wirkt Cherson wie eine Geisterstadt, zumal sich die verbliebenen Einwohner nur noch selten auf die Strasse wagen.

Angehörige einer älteren Frau transportieren sie zu einem Evakuierungszug in Cherson. 
Angehörige einer älteren Frau transportieren sie zu einem Evakuierungszug in Cherson. 
Archivbild: Evgeniy Maloletka/AP/dpa

«Das Leben normalisiert sich, aber es gibt viel Beschuss», sagt die 56-jährige Walentyna Kytaiska, die in dem nahe gelegenen Dorf Tschornobaiwka lebt. Doch normal ist ein relativer Begriff für ein Land im Krieg. Behörden und Einwohner bemühen sich, so etwas wie Normalität zu schaffen. Sie beseitigen selbst in der Eiseskälte Trümmer und Minen.

«Die Schwierigkeiten sind ganz einfach, es sind die Wetterbedingungen», sagt ein Mitglied des Entminungstrupps, der sich den Decknamen Technik zugelegt hat. Bei der Kälte funktionierten einige Geräte einfach nicht, «weil der Boden gefroren ist wie Beton».

Die Entsendung zusätzlicher Teams könnte die Arbeitslast erleichtert. Während eines Monats hätten er und sein Team auf nur zehnQuadratkilometern mehrere Tonnen Minen entdeckt und entfernt, sagt Technik.

Handgranate in Waschmaschine

Die demolierten Strassen halfen den Russen, ihre Sprengfallen zu tarnen. Schlaglöcher etwa bieten ein hervorragendes Versteck für Minen. Man braucht nur etwas Erde darauf zu schütten.

Im Bezirk Beryslawskyi wurde eine Hauptstrasse mit einem Schild «Minen voraus» gesperrt, die Passanten wurden auf eine kleinere Strasse umgeleitet. Tatsächlich vermint war jedoch genau diese Nebenstrasse, was einige Entminungshelfer des Militärs das Leben kostete. Einige Wochen später wurden dort auch vier Polizeibeamte getötet, darunter der Polizeichef von Tschernihiw, der nach Cherson gekommen war, um der Stadt wieder auf die Beine zu helfen.

Die Entminungstrupps gehen von Haus zu Haus, um sicherzustellen, dass die früheren Bewohner sicher zurückkehren können. Experten zufolge kann es bis zu drei Tage dauern, bis ein einziges Haus geräumt ist. In einem Haus entdeckte ein Team eine Handgranate in einer Waschmaschine. Der Stift war so platziert, dass das Öffnen des Waschmittelbehälters eine Explosion ausgelöst hätte.

Minenfelder statt Weizenfelder

Das Hauptpolizeirevier der Stadt, in dem Berichten zufolge Häftlinge gefoltert wurden, ist voll mit Sprengstoff. Als die Entminungstrupps versuchten, in das Gebäude vorzudringen, explodierte ein Teil des Gebäudes. Also haben sie das Projekt erst einmal aufgegeben.

Auch langfristig bleiben Fragen: Cherson liegt inmitten einer landwirtschaftlich geprägten Region, in der Weizen, Tomaten und Wassermelonen angebaut werden. Die Felder sind so stark vermint, dass nach Einschätzung von Minenräumer Technik auf etwa 30 Prozent des urbaren Landes in dem Gebiet im Frühjahr nichts angebaut werden kann. Schon auf den ersten Blick sind die Spitzen von Panzerabwehrminen zu erkennen, die aus den Feldern ragen.

Doch selbst nach einer weiteren Nacht heftigen Beschusses sagt der in Cherson lebende Oleksandr Tschebotariow, das Leben unter den Russen sei für ihn, seine Frau und die dreijährige Tochter noch schlimmer gewesen. «Man kann jetzt leichter atmen», sagt der 35-jährige Radiologe, fügt aber hinzu: «Wenn das Geknalle nicht vor Neujahr aufhört, fahre ich in den Urlaub.»