Kurze Wege zur Arbeit, Ruhe selbst mitten in der Stadt und Rücksicht bei den Mitmenschen: Angesichts der Lockerungen und des wieder anschwellenden Alltagslebens sehnt sich mancher zurück in die Zeit der grossen Corona-Beschränkungen. Ein Tabu?
Plötzlich ist sie bei vielen wieder da, diese innere Unruhe. Und mancher denkt still und heimlich: Was waren das damals – also vor ein paar Wochen – noch für Zeiten, als in der Corona-Krise fast alles stillstand!
«Ich mochte die Ruhe», bekennen manche jetzt freimütig unter engen Freunden oder in sozialen Netzwerken. Die weit verbreitete Rücksicht der Mitmenschen sei schön zu erleben gewesen, insgesamt das Gefühl, dass es doch auch ganz anders ginge, nicht für alle natürlich, aber doch für viele. «Eine andere Welt war möglich.»
Der Schauspieler Mark Waschke («Tatort») sagte den Zeitungen der Funke Mediengruppe, «das Anhalten des Kapitalismus, das Ausbremsen des Einfach-weiter-so-Konsumierens» habe ihn inspiriert. «Wir haben uns alle besonnen und konnten schauen, was uns im Leben wirklich wichtig ist. Und das ist auch kein Kitsch im Angesicht der gesellschaftlichen Herausforderungen, die uns gegenüber stehen.»
Natürlich gehört es nicht zum guten Ton, ein Hoch auf die Corona-Beschränkungen zu singen. Und so bemühen sich alle auch, zu betonen, dass der persönliche Eindruck das Leid der vielen, die unter der Krise gelitten haben, nicht mindern solle.
«Jetzt weiss ich, dass ich vor Corona zuweilen doch recht gestresst war – auch wenn mir das eigentlich nie bewusst gewesen ist», bekennt ein Youtuber aus Hamburg – und freut sich im Nachhinein über das gesellschaftlich heruntergefahrene Leben, auch wenn der sogenannte Lockdown in Deutschland nie so streng war wie etwa in einigen Nachbarländern. «Man ist halt normalerweise in so etwas drin, das keinen Ausbruch zulässt.» Er fühle sich fast geheilt von der sogenannten FOMO, der Fear of missing out, der Angst, etwas zu verpassen, die in der Social-Media-Ära oft herrsche.
Corona hat dazu geführt, dass «Cocooning» zum Standard wurde. Wer sich zurückziehen wollte, gewissermassen in einen Kokon (daher der Begriff), brauchte keine faule Ausrede mehr: Ohne «triftigen» Grund durfte man etwa in Bayern das Haus zu Beginn der Anti-Pandemie-Massnahmen nicht verlassen – selbst auf einer Bank sitzen in der Sonne werteten manche Polizisten als «nicht triftig». Überall galten Kontaktverbote – mal für Leute ausserhalb des eigenen Hausstands, mal ausserhalb der Familie.
Damit einhergehend wurde ein weiterer Trendbegriff zur Norm: hyggelig. Das aus dem Dänischen stammende Wort für Gemütlichkeit erhielt im wörtlichen Sinne Einzug in die heimischen vier Wände oder auch den Garten: Wie die Weltmeister machten es sich die Leute schön und entrümpelten ihre Wohnungen. Viele entdeckten – womöglich auch beim Aufräumen – alte Kochbücher wieder. Passend, wo Restaurants doch geschlossen hatten.
Da zudem zwischenzeitlich Lebensmittelmärkte mehr oder weniger die einzigen geöffneten Läden waren, gerieten einige in einen regelrechten Kaufrausch und zauberten daheim Gerichte aus exotischen Zutaten, die sie nie probiert hatten. Der einstige Twitter-Trend, sein Mittagessen zu fotografieren und der Welt zu präsentieren, wurde wiederbelebt.
Wer arbeiten konnte beziehungsweise musste – und das von zu Hause aus und im Idealfall ohne parallele Kinderbetreuung – lernte das Homeoffice schätzen: aufstehen, frisieren, ein paar Schritte zum Arbeitsplatz. Abends abmelden – und zack auf der Couch.
Zum Abschalten blieb nicht viel mehr übrig, als vor der eigenen Haustür seine Runden zu drehen. Spaziergehen in der Natur wurde kurzerhand neuer Volkssport und viele entdeckten die Heimat – erstmals oder wieder. Sie schwärmten von den Ausflugszielen in der nahen Umgebung, als hätte es die Felder und Wälder, die Seen und das Meer oder die Berge vorher nicht gegeben.
Angesichts von soviel Zeitvertreib mit Flora und Fauna mutierte mancher zum Naturkundler und kann nun Bäume anhand der Rinde unterscheiden oder Asiatische von heimischen Marienkäfern.
Im Corona-Fragebogen der «NZZ» (Neuen Zürcher Zeitung) antwortete Entertainer Harald Schmidt Ende April auf die Frage, was ihm gar nicht fehle: «Besuche, Umarmungen, Küsschen links/rechts, spontane Nackenmassage im Vorbeigehen.» Und auf die Frage, ob die Krise auch gute Seiten habe? «Jede Menge. Flugscham überflüssig, Heizöl billig, Solidarität gross. Und wir kennen endlich den Grund für die leeren Kirchen.» Der Koch und Autor Vincent Klink meinte Ende Mai zu den guten Seiten der Krise: «Lehrreich ist auch die Widerlegung zeitgeistiger Hybris, des «anything goes».» Und zu der NZZ-Frage, ob die Welt nach der Pandemie eine andere sein werde: «Für Leute mit genügend Hirnschmalz ja, der Rest ist nachweislich sehr vergesslich.»
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