Zeremonien, Gebete und Schweigeminuten Wie sich das Gedenken in den USA wandelt

Von Ted Anthony, AP

6.9.2021 - 05:22

Die 110-stöckigen Türme des New Yorker World Trade Centers stehen nach den Terroranschlägen vom 9. September 2002 in Flammen.
Die 110-stöckigen Türme des New Yorker World Trade Centers stehen nach den Terroranschlägen vom 9. September 2002 in Flammen.
Bild: Keystone/AP Photo/Kelley Sane

Am Jahrestag der Terroranschläge versammeln sich viele Amerikaner an Nationalen Gedenkstätten. Doch was bedeutet das Erinnern für Millionen junge Menschen, die die Katastrophe nicht miterlebt haben?

6.9.2021 - 05:22

Die Hügel in Shanksville scheinen jedes Geräusch zu verschlucken. Das Plateau liegt leicht erhöht über der Landschaft und bildet einen Ort der Stille – genau dort, wo Ruhe gebraucht wird. Millionen Amerikaner kommen hierher nach Pennsylvania, um die Nationale Gedenkstätte für die Absturzopfer des Flugs 93 zu besuchen. Es ist ein Ort, der das Erinnern fördert.

Seit dem Absturz der United-Airlines-Maschine sind 20 Jahre vergangen. An Bord brach damals Chaos aus, während knapp 500 Kilometer östlich die Türme des World Trade Centers brannten. Fast ein Fünftel der US-Bevölkerung ist zu jung, um sich aus erster Hand an jenen Tag zu erinnern, der alles veränderte.

Doch an der Gedenkstätte nahe der Absturzstelle geht es um nichts anderes als um die Erinnerung – nicht nur als Gemütszustand, sondern als aktive Handlung. Angesichts von Verlust und Trauma kann sie viele Formen annehmen: So versammeln sich Menschen zum gemeinsamen Gedenken bei Zeremonien am Ground Zero, bei Schweigeminuten und Gebeten.



Gedenken als politischer Akt

Der Akt des Gedenkens ist zudem politisch. Das zeigt sowohl die Debatte um Denkmäler der Konföderierten im Süden der USA als auch der Streit um die Frage, welche Rolle der Krieg gegen den Terror und sein Tribut beim Gedenken an den 11. September 2001 spielen sollten. Es gibt persönliche, kulturelle und politische Erinnerungen, und häufig verschwimmen die Grenzen.

Und seit Generation manifestiert sich das Gedenken in Monumenten und Denkmälern wie in Shanksville. Sie sind präzise darauf ausgerichtet, Erinnerungen und Emotionen auf bestimmte Weise zu wecken. Doch während die Mahnmale stehen, entwickelt sich das Erinnern selbst im Laufe der Zeit. Die Art des Gedenkens an 9/11 hängt vom Zeitpunkt ab. Welche Bedeutung hat sie nach 20 Jahren noch?

«Unsere Gegenwart beeinflusst, wie wir uns an die Vergangenheit erinnern – manchmal auf bekannte und manchmal auf unbemerkte Weise», erklärt Jennifer Talarico, Psychologie-Professorin am Lafayette College in Pennsylvania. Das zeigte sich deutlich in den vergangenen fünf Wochen in Afghanistan. Dort endete ein 20-jähriger Krieg, der eine direkte Reaktion auf 9/11 war, ziemlich genau dort, wo er begonnen hatte: mit den repressiven und gewaltsamen Taliban wieder an der Macht.



Mehrere Stadien der Erinnerung

Dagegen verkörpert die Gedenkstätte für Flug 93 zwar ein statischeres Gedenken. Doch die Frage, wie sich das Erinnern entwickelt, liegt auch hier in der Luft. Im Besucherzentrum bringen schmerzhafte Artefakte von der Katastrophe die Vergangenheit mit verblüffender Effizienz zurück. Ein verbogenes, verschrammtes Besteck vom Flugzeugessen ist besonders eindrücklich. Doch die Vielfalt der Erinnerungen auf dem wenige Meter entfernten, stillen Aussichtspunkt und dem gelungenen Denkmal wirkt noch länger nach.

Chefarchitekt Paul Murdoch aus Los Angeles erklärt, die Gedenkstätte solle mehrere Stadien der Erinnerung an den Absturz darstellen. Da das Denkmal lange Bestand haben solle, habe er sich gegen einen Ansatz entschieden, «der die Wut in der Zeit einfriert oder die Angst einfriert», sagt Murdoch, der das Memorial zusammen mit seiner Frau Milena entworfen hat. «Wir haben jetzt eine Generation von Menschen, die am 11. September noch gar nicht auf der Welt waren. Wie spricht man zu Menschen dieser neuen Generation – oder künftiger Generationen?»

Diejenigen, die bereits auf der Welt waren, lebten zwar in völlig unterschiedlichen Teilen des Landes und der Welt, sahen aber weitgehend die gleichen Fernsehbilder von den Anschlägen und der Zerstörung. Sie erlebten die Katastrophe zwar getrennt voneinander, aber dennoch gemeinsam. So bildete sich nach Angaben von Experten eine Art von kollektiver Erinnerung.

Erinnerung wird zur Geschichte

Die Ereignisse scheinen nicht lange zurückzuliegen, sind aber zugleich längst zu einem Teil der Geschichte geworden: Dieses Spannungsverhältnis tritt zum 20. Jahrestag nun besonders deutlich zutage. Erinnerung wird zur Geschichte. Und viele Menschen klammern sich an ihre persönliche, tröstliche und nostalgische Version dieser Geschichte.

Wenn Erinnerung zu Geschichte wird, kann sich zugleich eine grössere Distanz einstellen. Im Fall von 9/11 wird das für lange Zeit nicht passieren, dafür wirkt die historische Katastrophe noch viel zu stark nach. Und wenn die USA sich nun in wenigen Tagen an den Morgen des Angriffs vor 20 Jahren erinnern, ist das nicht nur ein Blick zurück. Sondern auch ein Umschauen und die Frage: Was bedeutet das für uns jetzt?

Von Ted Anthony, AP