Chronik einer Kapitulation «Asow-Stahl, der Ort meines Todes und meines Lebens»

Von Marta Rau

20.5.2023

Asow-Kämpfer berichten von schwerer Folter

Asow-Kämpfer berichten von schwerer Folter

Die Aussagen der Kämpfer, die nach eigenen Angaben von den russischen Streitkräften gefangen genommen wurden, konnten bisher nicht unabhängig überprüft werden.

23.08.2022

Am 20. Mai 2022 haben sie endgültig aufgegeben: 86 Tage haben die Verteidiger von Asow-Stahl in Mariupol ausgehalten. Ihr Widerstand beflügelt das Land, doch die Kämpferinnen und Kämpfer zahlen auch einen hohen Preis.

Von Marta Rau

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Am 20. Mai vor einem Jahr haben die letzten Verteidiger des Hüttenwerks Asow-Stahl in Mariupol kapituliert.
  • 86 Tage haben die ukrainischen Soldaten auf dem riesigen Werksgelände ausgehalten.
  • Der Widerstand hat dem Land am Anfang des Kriegs Mut gemacht. Zum Jahrestag ein Rückblick auf den Ort des Wiederstandes und dessen Kapitulation.

Die Einkreisung

Mariupol ist als wichtige strategische Stadt eines der ersten Ziele der russischen Truppen. Eine Eroberung würde es nicht nur ermöglichen, einen Landweg zur Krim zu sichern, sondern Seetransporte im Schwarzen Meer zu erleichtern.

Nach dem umfassenden Einmarsch in die Ukraine rückt die russische Armee zusammen mit den Truppen der «Volksrepublik Donezk» aus drei Richtungen schnell auf die Stadt vor: Am 2. März – nur eine Woche nach Beginn eines Krieges – ist Mariupol vollständig eingekreist.

Beginn der Schlacht um Asow-Stahl

Am 18. März 2022 beginnt die Schlacht um das Metallurgische Kombinat Asow-Stahl. Das Gelände des Hüttenwerks ist nicht bloss ein riesiger Komplex, sondern bietet mit einem grossen Untergrund-Netzwerk auch Schutz für Soldaten und die Zivilisten, die sich bei ihnen verstecken.

Etwa tausend von ihnen – darunter viele Kinder – fliehen vor dem russischen Beschuss in die Tunnel und Bunker der Anlage. Die Verteidiger rekrutieren sich aus der 36. Marinebrigade, Polizei, Grenzschutz und dem Inlandsgeheimdienst SSU sowie Soldaten der Nationalgarde und der Armee, wobei besonders das Asowsche Regiment zu nennen ist.

Luftbrücke ins Hüttenwerk

Am 21. März führt der ukrainische Militärgeheimdienst einen ersten riskanten Versorgungsflug durch, dessen Durchführung eigentlich als unmöglich erachtet wird. Helikopter sollen in extrem niedriger Höhe in die belagerte Stadt fliegen.

Der Start erfolgt am Flughafen Dnipro: Von dort geht es entlang der Frontlinie nach Südosten bis zum Asowschen Meer, um anschliessend der Küste bis nach Mariupol zu folgen. Insgesamt sieben solche Missionen wagen die Ukrainer – und können so Munition, Material und Medikamente liefern. Sie bringen 72 Soldaten nach Mariupol und fliegen 63 schwer Verwundete aus.

Heftige Kämpfe

Bis zum 15. April ziehen sich alle verbleibenden ukrainischen Truppen in das Hüttenwerk zurück. Gerade das Asowsche Regiment verliert bei der Verteidigung viele Kämpfer. 

Das russische Verteidigungsministerium stellt den Ukrainern in Mariupol mehrmals ein Ultimatum, damit diese ihre Waffen niederlegen und die russische Armee einrücken lassen. Aber die Verteidiger weigern sich und setzen den Kampf fort.

Am 18. April setzt die russische Luftwaffe erstmals superschwere Fliegerbomben der Typen FAB-250 und FAB-3000 ein. Sie sollen den Bodentruppen den Weg in die Tunnel des Werks ebnen.

Brennende Geschosse regnen auf Asowstal-Werk nieder

Brennende Geschosse regnen auf Asowstal-Werk nieder

Auf das Stahlwerk Asowstal sind Brandbomben niedergegangen. Weisse, hell glühende Geschosse sind auf einem Video zu sehen, das ein Kommandeur der pro-russischen selbsternannten Republik Donezk am Sonntag auf Telegram veröffentlicht hat.

16.05.2022

Die Nacht auf den 28. April 2022 ist besonders heftig: In insgesamt 50 Luftangriffen wird das Werk bis zum Morgengrauen bombardiert. Weil Tunnel, aber auch die Decke eines unterirdischen Spitals einstürzen, gibt es viele Verletzte.

Die Kapitulation

Anfang Mai lässt der Kreml erstmals die Evakuierung von Zivilisten zu, die sich noch immer auf dem Werksgelände befinden. Sie werden nach Osten abtransportiert.

Zivilisten aus Stahlwerk in Mariupol evakuiert

Zivilisten aus Stahlwerk in Mariupol evakuiert

Aus dem von russischen Truppen belagerten Stahlwerk Asowstal in der südostukrainischen Stadt Mariopol sind mehrere Dutzend Zivilisten evakuiert worden. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bestätigte am Sonntag einen entsprechenden Bericht.

02.05.2022

Nach Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau beginnt am 16. Mai die Evakuierung der ersten Soldaten aus dem Gebiet. Zu diesem Zeitpunkt befinden sich rund 600 meist verwundete Ukrainer auf dem Gelände, von denen 40 schwer verletzt sind. Sicherheitsgarantien geben die Vereinten Nationen und das Internationale Rote Kreuz.

Im obigen Tweet heisst es: «Und das war's. Ich danke dir aus dem Schutz von Asow-Stahl, dem Ort meines Todes und meines Lebens.»

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärt an jenem Tag: «Wir hoffen, dass wir unsere Jungs lebend retten können. Unter ihnen gibt es schwer Verwundete, ihnen wird geholfen. Ich möchte betonen, dass die Ukraine lebende Helden braucht, das ist unser Prinzip.»

Russische Bilder zeigen angeblich Gefangennahme von Asow-Kämpfern

Russische Bilder zeigen angeblich Gefangennahme von Asow-Kämpfern

Das russische Verteidigungsministerium hat Bilder veröffentlicht, die die Gefangennahme von ukrainischen Kämpfern aus dem Asow-Stahlwerk in Mariupol zeigen sollen. Zuletzt hatten sich rund 260 Soldaten ergeben.

17.05.2022

Am 20. Mai ist die Evakuierung der Garnison abgeschlossen, die Soldaten, die kapituliert haben, gehen in russische Kriegsgefangenschaft.

Nachlese

In Sicherheit sind die Leute aber nicht: Moskau verwehrt dem Roten Kreuz die zugesagten Besuche der Inhaftierten. In der Nacht zum 29. Juli 2022 werden bei einer Explosion in der russischen Strafkolonie in Oleniwka in der Region Donezk mehr als 50 ukrainische Gefangene getötet: Videos zeigen verkohlte Leichen, die zwischen Etagenbetten aus Metall liegen.

Ukraine verkündet Austausch von 215 Kriegsgefangenen

Ukraine verkündet Austausch von 215 Kriegsgefangenen

Die Ukraine hat den grössten Gefangenenaustausch mit Russland seit Beginn des Krieges Ende Februar verkündet. Unter den 215 Freigelassenen befinden sich offenbar auch Militärbefehlshaber, die an der Verteidigung des Asow-Stahlwerks in Mariupol bet

22.09.2022

Vier Monate nach der Kapitulation im Hüttenwerk kommt es zu einem Gefangenenaustausch: Am 21. September 2022 werden 225 Ukrainer – unter ihnen auch Asow-Stahl-Kämpfer – entlassen. Sie müssen bis zum Ende des Krieges in der Türkei bleiben.

Die Befreiung der ukrainischen Verteidiger von Mariupol bleibt weiterhin ein Thema: Noch immer befinden sich 700 Soldaten des Asow-Regiments in russischer Gefangenschaft.