Abkommen unter FeindenIsraels Dilemma mit dem Geisel-Deal
dpa/toko
23.11.2023 - 20:31
Waffenruhe im Gazastreifen ab Freitagmorgen erwartet
Nach Angaben der Regierung in Katar sind alle Details für eine Waffenruhe und eine Geiselfreilassung im Gazastreifen vorbereitet.
23.11.2023
Die vorübergehende Feuerpause im Gaza-Krieg kommt, aber ein Tag später als angekündigt. Detailfragen in letzter Minute bringen den Deal mit der Hamas ins Wanken – und schüren in Israel weitere Zweifel.
DPA, dpa/toko
23.11.2023, 20:31
dpa/toko
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Das Abkommen zwischen Israel und der Hamas wurde wegen Detailfragen in letzter Minute verschoben. Angehörige der Geiseln zeigen sich bereits skeptisch.
Israel steckt wegen dem Deal in einem Dilemma. «Keiner kann mit Sicherheit sagen, dass die Hamas ihren Teil erfüllen kann», sagt ein Experte.
Nicht nur die Rückkehr der Geiseln sorgt in Israel für Bedenken, sondern auch die Freilassung von 150 palästinensischen Frauen und Jugendlichen aus israelischen Gefängnissen.
Das Abkommen zwischen Israel und der islamistischen Hamas zum Tausch von Geiseln gegen Häftlinge schien bereits in trockenen Tüchern. Doch wenige Stunden vor dem erwarteten Inkrafttreten kündigte Israel überraschend eine Verschiebung an. Israelische Medien berichteten von einer fehlenden Unterschrift der Hamas, aus palästinensischen Quellen hiess es, «letzte Probleme» müssten noch geklärt werden. Nach einem erneuten Ringen erreichte Vermittler Katar zwar eine Einigung. Das Misstrauen in Israel an der Standfestigkeit jedoch bleibt.
«Die Verschiebung der Kampfpause zeigt, wie wacklig der Deal zwischen den beiden Kriegsparteien ist», sagt Jochanan Zoref, Experte für israelisch-palästinensische Beziehungen vom Institut für Nationale Sicherheitsstudien (INSS). Mögliche Szenarien für die kommenden Tage gebe es viele. «Wenn die Feuerpause in Kraft tritt, könnte sie mittendrin wieder unterbrochen werden», sagt Zoref. Israel würde wieder militärischen Druck ausüben, das Schicksal der Geiseln wäre ungewiss. Auch Hoffnungen der notleidenden Menschen im Gazastreifen auf eine Pause der verheerenden Angriffe wären zerstört.
Angehörige der Geiseln zeigen sich bereits skeptisch. «Solange die Dinge nicht geschehen, geschehen sie nicht wirklich, also bin ich nicht bereit, mich vorzeitig zu freuen», sagt Inbar Goldstein dem israelischen Armeeradio. Ihre Schwägerin sowie deren drei Kinder gehören zu den etwa 240 Geiseln, die Terroristen am 7. Oktober in den Gazastreifen verschleppten. Goldsteins Bruder und Nichte wurden in einer Ortschaft an der Grenze bei dem Massaker ermordet. «Mein Ausgangspunkt ist heute, dass ich nicht mehr automatisch vertraue und glaube, schon gar nicht dem, was die Hamas sagt», so Goldstein.
Auch Experte Zoref ist sich nicht sicher, ob die Freilassung der vereinbarten 50 Frauen, Kinder und Jugendlichen so einfach möglich sein wird. «Keiner kann mit Sicherheit sagen, dass die Hamas ihren Teil erfüllen kann», sagt Zoref. Nicht alle Geiseln seien in den Händen der Hamas. Israel stünden aufreibende Tage bevor. Insbesondere da eine schrittweise Freilassung der Geiseln geplant sei. In den ersten vier Tagen der Feuerpause sollen jeweils zwischen 10 und 13 Geiseln freikommen. «Jeder Tag bringe neue Ungewissheit.»
Das Dilemma mit der Freilassung von Häftlingen
Nicht nur die Rückkehr der Geiseln sorgt in Israel für Bedenken, sondern auch die Freilassung von 150 palästinensischen Frauen und Jugendlichen aus israelischen Gefängnissen. «Wenn man diese Menschen freilässt, ist das ein Risiko», sagt Regierungschef Benjamin Netanjahu. Doch das sei der Preis, «den wir zahlen, um (...) Dutzende von Kindern und ihre Mütter nach Hause zu bringen». Familien von Opfern versuchten, die Freilassung vor dem Obersten Gericht zu kippen, jedoch ohne Erfolg.
Einige der möglicherweise freikommenden Häftlinge wurden wegen Messerattacken auf Israelis verurteilt, andere wegen Brandstiftung oder dem Werfen von Brandbomben. Niemand darunter wurde jedoch wegen Mordes verurteilt. Sie sollen den Plänen nach an den Ort zurückkehren, wo sie früher gelebt haben, etwa im Westjordanland oder in Ost-Jerusalem. Eine Rückkehr nach Gaza hält Experte Zoref für unwahrscheinlich. «Israel will nicht, dass es im Gazastreifen Freudenfeiern gibt», sagt Zoref. Netanjahu kündigte zudem an, dass Israel die Freigelassenen wieder verfolgen könne, sollte es notwendig werden.
In Israel ist die Freilassung von Häftlingen umstritten. Im Tausch für einen israelischen Soldaten lies das Land 2011 rund 1000 Häftlinge frei. Darunter war auch der heutige Hamas-Chef im Gazastreifen, Jihia al-Sinwar. Er gilt als einer der Hauptinitiatoren des Massakers am 7. Oktober. «Viele fragen sich, ob ohne die Freilassung das Massaker hätte passieren können, das wird man nie wissen», sagt Zoref. Vergangene Freilassungen hätten aber auch gezeigt, dass nicht alle Häftlinge sich wieder dem Terror zuwendeten. Zudem seien die 150 Frauen und Jugendliche, die nun frei kommen sollen, nicht «die schlimmsten Schwerverbrecher».
Schlechte Erfahrungen mit Feuerpausen
Auch beim Thema Feuerpause machte Israel 2014 schlechte Erfahrungen mit der Hamas. Nur wenige Stunden nach der Einigung auf eine 72-stündigen Kampfpause im Gaza-Krieg 2014 töteten Islamisten zwei israelische Soldaten. Ein weiterer, Hadar Goldin, wurde entführt. Hadars sterblichen Überreste, die im Süden des Gazastreifens vermutet werden, wurden bis heute nicht nach Israel überführt.
Israelischen Medien zufolge lautet die Ansage an die Soldaten vor Ort, beim Verdacht eines Angriffs auch während der Feuerpause umgehend zu reagieren. Netanjahu betonte, dass «Aufklärungsbemühungen» während der Tage weitergingen. Wie dies aussieht, war jedoch unklar. Die Einstellung der israelischen Luftüberwachung für sechs Stunden im nördlichen Gazastreifen ist Teil des Deals mit der Hamas.
Experten gehen davon aus, dass sich die Hamas in der Zeit neu gruppieren wird und gestärkt aus der Feuerpause hervor gehen könnte. «Ob der Deal ein guter Deal ist, werden wir erst hinterher wissen», sagt Zoref. Es sei aber auch ein Spiel gegen die Zeit. Je länger die Geiseln im Gazastreifen seien, desto unwahrscheinlicher sei es, dass sie lebend wieder herauskämen. «An einem gewissen Punkt muss man das Risiko eingehen.»