Äthiopien-Konflikt «Niemand weiss, wer noch lebt und wer tot ist»

Von Cara Anna, AP

23.11.2020 - 18:20

Äthiopiens Regierung stellt Tigray-Truppen 72-Stunden-Ultimatum

Äthiopiens Regierung stellt Tigray-Truppen 72-Stunden-Ultimatum

Äthiopiens Regierung stellt den Tigray-Truppen ein 72-Stunden-Ultimatum: Anderenfalls werde das Militär mit einer Offensive auf die Regionalhauptstadt Mekelle beginnen.

23.11.2020

Tigray, eine Region im Norden Äthiopiens wird von bewaffneten Kämpfen erschüttert. Eine Geflüchtete erzählt. 

Die Frau ist den Kämpfen in Tigray im Norden Äthiopiens entkommen. Als sie ging, war die Not schon gross, die Lebensmittel waren knapp. Wie es jetzt ist, weiss sie nicht – aber sie befürchtet das Schlimmste.

Die Gewehrsalven, immer und immer wieder, trieben sie zum Entschluss, die Stadt zu verlassen. Sie trieben die Frau zum Büro der örtlichen Behörden, wo sie sich die Papiere holen wollte, die sie brauchte, um die Reise anzutreten – weg aus Tigray, der von Kämpfen erschütterten Region im Norden Äthiopiens.

Die Frau, die ihren Namen nicht nennen möchte, stellte sich in der langen Schlange an. Doch als sie an der Reihe war, sagte der Beamte nur, sie habe ihre Zeit verschwendet. «Dies hier ist für Leute, die sich zum Kampf melden wollen», erklärte er.

Zehntausende Menschen sind geflohen

Trotzdem schaffte es die Frau, die Expertin für humanitäre Hilfe ist, von Tigray in die äthiopische Hauptstadt Addis Abeba. Sie gehört zu ein paar Hundert Menschen, die in dieser Woche aus der Konfliktregion herausgeholt wurden. Seit Anfang November toben die Kämpfe zwischen Soldaten der äthiopischen Zentralregierung und denen der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF), die die Regierung der Region stellt. Zehntausende Menschen sind schon ins Nachbarland Sudan geflohen.

Die Kommunikationswege sind abgeschnitten, Strassen gesperrt, Flughäfen geschlossen. Was genau in Tigray passiert, wie viele Tote es schon gibt, bleibt weitgehend im Dunkeln. Die Frau erzählt, was sie gesehen hat. Ihren Namen will sie nicht nennen, aus Angst um sich und ihre Angehörigen.

Offenkundig scheint, dass es den rund sechs Millionen Menschen in Tigray zunehmend schlechter geht. Lebensmittel, Treibstoff, sogar Wasser werden knapp. «Ich sage Ihnen, bald werden die Menschen anfangen zu sterben», sagt die einheimische Helferin.

«Es herrschte Panik»

Als die seit Langem schwelenden Spannungen sich Anfang des Monats in Gewalt Bahn brachen, war der Frau klar, dass sie ihre Zelte in Tigray abbrechen wollte. Sie hatte Familie in Addis Abeba, dorthin wollte sie. Die Banken waren schon geschlossen, aber von Freunden bekam sie genug Geld, um nach Mekele zu gelangen, der Hauptstadt Tigrays. Auf dem Weg zwängte sie sich mit ihrem Auto durch Strassensperren, die junge Männer aus angehäuften Steinen errichtet hatten. Kämpfe sah sie hier nicht.

Aber was sie in Mekele sah, habe sie schockiert, erzählt die Frau. «Es herrschte Panik», sagt sie. Studenten, die von überall her zusammengekommen seien, hätten vor der Universität geschlafen. Zu essen hätten sie kaum noch etwas gefunden, die Vorräte in den Märkten seien schon zur Neige gegangen.

In Mekele habe sie drei Bombardierungen gehört. Die Zentralregierung hat Luftangriffe auf die Stadt bestätigt. Als Ministerpräsident Abiy Ahmed im Fernsehen dann die Menschen in Tigray aufgerufen habe, aus Sicherheitsgründen nicht in grossen Mengen zusammenzukommen, sei Panik ausgebrochen, erzählt die Frau. «Die Leute sagten: Will er uns ganz ausbomben?»

Das äthiopische Militär forderte Zivilisten in Mekele am Samstagabend zur Flucht auf. Soldaten würden auf Mekele marschieren und sie mit Panzern einkesseln, sagte General Dejene Tsegaye.



Es habe aber auch Ärger und Wut gegeben und Menschen, die erklärten: «Ich will kämpfen.» In einem Spital machte die Frau einen Besuch an einem Krankenbett. Von dort brachte sie weitere niederschmetternde Eindrücke mit. «Ein Arzt sagte, sie haben keine Medikamente, kein Insulin, überhaupt nichts!» Die Mediziner hätten all ihre Hoffnungen darauf gesetzt, dass sie bald vom Roten Kreuz etwas bekommen würden.

Auf dem Schwarzmarkt ergatterte die Frau Benzin für die Weiterfahrt. Aber auch die Warnung, dass ihr Auto Ziel von Angriffen werden könnte, bekam sie mit auf die Reise. Schliesslich organisierten die UNO und Hilfsorganisationen einen Evakuierungskonvoi für Mitarbeiter, die nicht notwendigerweise vor Ort bleiben mussten. Die Frau konnte in einem der Busse mitfahren. «Ich denke, ich hatte ziemlich Glück», sagt sie.

Doch als die Busse die Regionalhauptstadt verliessen, wuchs die Angst. Die Fahrt über Nacht ging in die Region Afar, dann durch Amhara, von Kontrollposten zu Kontrollposten. Nicht alle der Sicherheitskräfte dort wussten über die Evakuierungsaktion überhaupt Bescheid. «Es hat insgesamt vier Tage gedauert», berichtet die Frau. Auf der direkten Route wäre es ein Tag gewesen. «Ich hatte wirklich Angst.»

Jetzt, in Addis Abeba, bleibt ihr nur, sich den Rufen aus dem In- und Ausland nach einem Dialog anzuschliessen. Ein solcher zeichnet sich bislang nicht ab, beide Seiten sprechen der anderen die Legitimität ab.

Spannungen nehmen unter Friedensnobelpreisträger zu

Seit Abiy, der für seine Aussöhnung mit dem langjährigen Erzfeind Eritrea den Friedensnobelpreis erhalten hat, 2018 das Amt antrat, haben die Spannungen innerhalb des Vielvölkerstaates Äthiopien zugenommen. Die Tigray, zuvor zentral an der Macht beteiligt, fühlen sich ausgebootet. Nachdem Abiy wegen der Coronapandemie Wahltermine verschob und die Tigray sich dem widersetzten und trotzdem wählten, verschärfte sich die Krise weiter.

Menschen aus Tigray haben sich nach Qadarif im Sudan geflüchtet. 
Menschen aus Tigray haben sich nach Qadarif im Sudan geflüchtet. 
Bild: AP/Marwan Ali

Und ein Angriff auf Regierungssoldaten in der Region Tigray brachte den Konflikt zum Eskalieren. «Ich denke, sie sollten verhandeln», beharrt die Frau. «Was ist mit den Menschen?», fragt sie. «Wir brauchen wirklich einen Korridor, damit Lebensmittel und Medikamente hineinkommen.»

Zu ihren Freunden und Verwandten in Tigray kann sie keine Verbindung aufnehmen. «Niemand weiss, wer noch lebt und wer tot ist», sagt sie. «Das ist eine Katastrophe für mich.»

Als sie endlich eine Freundin in Mekele erreicht, lindert das die Sorge keineswegs. Die Uni wurde bei einem Luftangriff getroffen, erfährt die Frau. Mehr als 20 Studentinnen und Studenten seien verletzt worden. Ihre Freundin sei eigentlich eine starke Frau, die sonst kaum etwas umhaut. Aber jetzt ist auch sie verzweifelt. «Sie hat geweint.»

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Von Cara Anna, AP