Selenskyj, der Krieg und die Freiheit «Alle sind hier. Und so wird es bleiben»

Von Philipp Dahm

24.8.2022

Selenskyj: Ukraine wird «bis zum Ende» gegen Invasoren kämpfen

Selenskyj: Ukraine wird «bis zum Ende» gegen Invasoren kämpfen

Am ukrainischen Unabhängigkeitstag hat Präsident Wolodymyr Selenskyj einen Kampf «bis zum Ende» gegen die russischen Invasoren angekündigt. Die Ukraine werde «keinerlei Zugeständnisse oder Kompromisse» machen, sagte Selenskyj in seiner Ansprache e

24.08.2022

In der Nacht nach dem Kriegsausbruch nimmt Wolodymyr Selenskyj ein Video auf, das bis heute nachwirkt. Der ukrainische Präsident setzt damals ein Zeichen, an dem sich Land und Leute bis heute orientieren.

Von Philipp Dahm

Es ist die Nacht vom 24. auf den 25. Februar 2022. In Kiew herrscht eine gespenstische Stille. Eine Gruppe von fünf Männern steht auf der Strasse. Einer von ihnen macht ein Selfie-Video, das um die Welt gehen wird.

«Guten Abend allerseits», sagt der Wortführer. «Der Fraktionsvorsitzende ist hier. Der Chef des Präsidialamts ist hier. Premierminister Schmyhal ist hier. Podoljak ist hier. Der Präsident ist hier. Unsere Soldaten sind hier. Die Bürger*innen sind hier. Alle sind hier, um die Unabhängigkeit unseres Landes zu bewahren. Und so wird es bleiben. Ehre unseren Verteidigern. Ehre unseren Helden. Ehre der Ukraine.»

Es ist natürlich Wolodymyr Selenskyj, der sich da in den ersten Stunden des russischen Überfalls in Szene setzt. Und es ist ein Kontrastprogramm: Als ein halbes Jahr vorher die USA aus Afghanistan abziehen, sucht der dortige Präsident Aschraf Ghani sofort das Weite, als die Taliban auf Kabul vorrücken. Auch der ukrainische Staatschef hätte sich in Sicherheit bringen können. Doch der 44-Jährige erwidert auf ein entsprechendes Angebot der USA: «Der Kampf ist da. Ich brauche Munition, kein Taxi.»

«Konflikt wird relativ schnell enden»

Vor einem halben Jahr haben viele geglaubt, dass die Verteidiger keine Chance haben. «Wladimir Putin hat noch nie einen Krieg verloren», schreibt das US-Magazin Newsweek am 26. Februar. «Es ist unwahrscheinlich, dass es bei seiner jüngsten Unternehmung anders sein wird.» Die Analysten des US-Militärs erwarteten, dass «der Konflikt relativ schnell enden wird» – und Kiew Territorium abgeben und eine neue Regierung bilden muss.

Es kommt anders: Der russische Vormarsch auf Kiew wird zum Fiasko, nachdem russische Fallschirmjäger hohe Verluste einfahren, als sie versuchen, den Flughafen Kiew-Hostomel zu besetzen. Ein kilometerlanger Konvoi russischer Lastwagen verursacht anschliessend einen Stau – und tagelang spekuliert die Weltöffentlichkeit, wann denn nun der Angriff auf die Hauptstadt beginnt.

Der russische Militär-Konvoi auf der T-1011 nahe des Kiew-Hostomel-Flughafens am 28. Februar.
Der russische Militär-Konvoi auf der T-1011 nahe des Kiew-Hostomel-Flughafens am 28. Februar.
Keystone

Der Sturm auf Kiew bleibt jedoch aus, und langsam dämmert es den Beobachtenden, dass dieser Krieg wohl doch keine schnelle Kampagne inklusive Blitz-Sieg werden wird. Gleichzeitig beginnt Selenskyj, die westliche Öffentlichkeit zu nerven: Immer wieder fordert der frühere Schauspieler mit deutlichen Worten Sanktionen gegen Russland – und Waffenhilfe für die Ukraine.

Selenskyj, der Antreiber

Zunächst findet der zweifache Familienvater kein Gehör. Frankreich zögert, Deutschland zaudert – und Putin erhöht die Alarmbereitschaft seiner Atom-Truppe. Es sind die Regierungen in den baltischen Staaten, in Polen und Grossbritannien, die in Europa als Erste erwachen und zusammen mit den USA eine Wende herbeiführen – doch es dauert, bis der Westen die Ukraine nachhaltig unterstützt.

Die Waffenhilfe, die Selenskyj dem Westen abringt, ist einer der Gründe, warum Kiew ein halbes Jahr nach Kriegsbeginn noch nicht gefallen ist. Die Motivation der Verteidiger ist ein anderer, und auch dafür ist der Präsident mitverantwortlich. Nach wie vor wendet er sich Tag für Tag mit seiner Videobotschaft ans Volk. Dass er dabei eine gute Figur macht, beweist allein schon die Tatsache, dass Frankreichs Präsident Emmanuel Macron seinen minimalistischen Kleidungsstil kopiert.

Immer wieder gibt Selenskyj den Antreiber. Er ruft auf, noch mehr Waffen zu schicken. Er schickt den westlichen Staatschef angeblich sogar Bilder getöteter Kinder, um sie umzustimmen. Er macht den Europäern Druck, weil die für Öl und Gas nach wie vor Milliarden an Moskau überweisen und so den Angriffskrieg mitfinanzieren. Er warnt Länder wie Deutschland, dass sie sich erpressbar machen. 

Dem Grauen ein Gesicht geben

Wie Recht er damit hat, geht Berlin erst auf, als Wladimir Putin tatsächlich den Pipeline-Hahn zudreht. Und auch Selenskyjs Vorhersage, dass sich die russische Armee nicht an Regeln halten wird, bewahrheiten sich: Wieder ist es der ukrainische Präsident, der dem Grauen ein Gesicht gibt, als er Orte wie Butscha besucht, wo Zivilisten gnadenlos ermordet worden sind.

Selenskyj am 4. April bei seinem Besuch in Butscha.
Selenskyj am 4. April bei seinem Besuch in Butscha.
AP

Selenskyj wirkt aber nicht nur nach aussen. Er baut auch das Innere um, bekämpft die Korruption, macht die Ukraine zum Anwärter auf eine EU-Mitgliedschaft und scheut nicht davor zurück, Gefährten vor den Kopf zu schlagen, als er Mitte Juli die Generalstaatsanwaltschaft und den Chef des Geheimdienstes absetzt.

So trägt der Mann dazu bei, dass nicht nur die Motivation der Kämpfenden, sondern auch die der Bürger*innen hoch bleibt. Selenskyj und der Krieg haben das Land zusammengeschweisst: Heute identifizieren sich 85 Prozent der Menschen in erster Linie als Ukrainer*innen, und dann erst als Angehörige einer Region, Religion oder Ethnie. Das gab es noch nie – im Februar lag der Wert noch bei 64,4 Prozent.

Ukraine geeint wie nie

«Die Ukrainer sind vereint wie niemals zuvor», bestätigt Anton Hrushetskiy vom Internationalen Institut für Soziologie in Kiew. Das ist aber auch dem russischen Präsidenten geschuldet: «Nichts hätte so einen einenden Effekt haben können wie Putins Krieg und seine zynische Rechtfertigung dafür.»

Sechs Monate Krieg: Ukrainer sind siegesgewiss

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Sechs Monate nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine sind viele Menschen in der Hauptstadt Kiew unterwegs, um sich zerstörte russische Panzer anzusehen, die dort ausgestellt sind. Viele macht der Anblick stolz – sie glauben nic

24.08.2022

Den EU-Beitritt befürworten in der Ukraine satte 96 Prozent der Befragten, und auch der Nato-Beitritt ist für 91 Prozent immer noch erstrebenswert. Das Verhältnis zu Russland ist dagegen nicht nur abgekühlt, es herrscht Eiszeit: 92 Prozent haben schlechte Gefühle bei dem Thema, obwohl die Menschen im Osten einst als Brudervolk des Landes galten.

Der ukrainische Präsident hat sein Land weit gebracht. Zu Beginn des Kriegs haben die russischen Militärs damit gerechnet, mit Blumen empfangen zu werden. 45'000 Leichensäcke standen für die «Säuberung» bereit, die dem Blitzsieg folgen sollte, und die Wohlhabenden sollen sich bereits Apartments in Kiew ausgesucht haben, die sie alsbald beziehen wollten.

Rückeroberung der Krim kein Hirngespinst mehr

Ein halbes Jahr später, am Tag der ukrainischen Unabhängigkeit, weht der Wind aus einer ganz anderen Richtung. Niemand drängt Selenskyj mehr, doch bitte Konzessionen zu machen, damit Putin seinen Krieg beendet. Die Krim, die Russland 2014 besetzt hat, ist mittlerweile im Visier der Verteidiger. Nicht nur militärisch, sondern auch politisch.

Selenskyj: Ukraine wird die Krim zurückerobern

Selenskyj: Ukraine wird die Krim zurückerobern

Zum ukrainischen Unabhängigkeitstag hat Präsident Wolodymyr Selenskyj bekräftigt, das gesamte Staatsgebiet der Ukraine von Russland zurückerobern zu wollen, inklusive der besetzten Halbinsel Krim.

23.08.2022

Hätte Selenskyj am 24. Februar darüber gesprochen, die Krim zurückerobern zu wollen, hätte ihn die Weltöffentlichkeit wohl für verrückt erklärt. Wenn heute eine Konferenz über die Zukunft der Halbinsel stattfindet, sind es die Präsidenten aus Polen und der Türkei sowie der Nato-Generalsekretär, die betonen, die Krim müsse ukrainisch bleiben.

Dieser Wandel ist wie vieles andere ein Verdienst des Mannes aus Krywyj Rih im Oblast Dnipropetrowsk. Was er in der Nacht auf den 25. Februar versprochen hat, hat er gehalten: «Alle sind hier, um die Unabhängigkeit unseres Landes zu bewahren. Und so wird es bleiben.»