Land der Extreme Auferstehung oder Bürgerkrieg – wohin steuern die USA?

Von Philipp Dahm

6.1.2022

«Trump mischt im Hintergrund weiter kräftig mit»

«Trump mischt im Hintergrund weiter kräftig mit»

Die Erstürmung des Kapitols hat über die US-Grenzen hinaus schockiert. Ein Jahr später ist die Aufarbeitung noch im Gang. Und Ex-Präsident Donald Trump? Der zieht weiter die Fäden, erklärt Claudia Fanziska Brühwiler von der Universität St. Gallen.

05.01.2022

Sie sind nicht erst seit dem 6. Januar 2021 die gespaltenen Staaten von Amerika: Die USA sind zerrissener denn je, und die Bürger*innen verlieren das Vertrauen in den Staat. Die Hoffnung stirbt aber zuletzt.

Von Philipp Dahm

Wie steht es um Amerika ein Jahr nach dem Sturm aufs Kapitol? Stephen Marche ist pessimistisch: «Der nächste US-Bürgerkrieg ist schon da – wir weigern uns bloss, es einzusehen», schreibt der kanadische Autor im «Guardian».

Seine Begründung: «Die politischen Probleme sind sowohl strukturell als auch unmittelbar, die Krise ist einerseits nichts Neues und andererseits beschleunigt sie sich. Das amerikanische Politsystem ist derart von Wut überwältigt worden, dass selbst die grundlegendsten Regierungsaufgaben zunehmend unmöglich zu bewältigen sind.»



Das ist starker Tobak. Hat der 46-Jährige recht mit seiner apologetischen Aussage? Wie gespalten sind die Vereinigten Staaten, knapp ein Jahr nach dem Amtsantritt des Demokraten Joe Biden? Eine Bestandsaufnahme in fünf Punkten.

Es ist was faul im Staate

Die Stabilität einer Demokratie hängt mit dem Vertrauen der Bürger*innen in ihre Institutionen zusammen – und die wiederum fusst auf der Legitimation des Staates.

Das Problem ist, dass jenes Vertrauen des Volkes in den Staat spätestens seit dem 6. Januar 2021 nachhaltig gestört ist. Einer Umfrage zufolge machten sich zum Jahresende 2021 vier von fünf Amerikaner*innen Sorgen oder grosse Sorgen um ihre Demokratie – wenn auch aus ganz verschiedenen Gründen.

Umfrage nach den grössten Gefahren für die Demokratie vom Jahresende 2021.
Umfrage nach den grössten Gefahren für die Demokratie vom Jahresende 2021.
Screenshot: CBS

Die Folgen sind einerseits immer tiefer fallende Zustimmungswerte für die Arbeit von Kongress, Senat und Weissem Haus. Andererseits reagieren einige Wähler*innen immer krasser auf ihre Enttäuschung von der Politik: Die Drohungen gegen Abgeordnete in Washington hat laut der Capitol Police im Vergleich zu 2020 um sagenhafte 107 Prozent zugelegt.

Die (verbale) Gewalt beschränkt sich dabei nicht auf jene in Amt und Würden: Selbst Wahlhelfer*innen werden bedroht. Ein Drittel von ihnen hat sich im Lauf der Präsidentschaftswahl 2020 unsicher gefühlt. Und bei den Zwischenwahlen im November 2022 rechnen laut einer Umfrage beachtliche 31 Prozent der Befragten nicht damit, dass es bei der Auszählung fair und korrekt zugehen wird.

Statistic: Do you approve or disapprove of the way the Congress is handling its job? | Statista
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Polarisierung. Ohne Ende

Der Sturm aufs Kapitol hat sichtbar gemacht, was sich seit Jahren angebahnt hat – schon bevor Donald Trump 2016 ins Weisse Haus eingezogen ist. Die Polarisierung gipfelte in Trumps Mär vom Betrug bei der Stimmenauszählung und den Ereignissen vom 6. Januar 2021. Hat sich seither etwas verbessert?

Nein, im Gegenteil. Während im April 2021 noch 64 Prozent der Amerikaner meinten, Joe Biden sei der legitime Gewinner der Präsidentschaftswahl, ist dieser Wert weiter gesunken und liegt jetzt bei nur noch 54 Prozent. Und das, obwohl bisher keinerlei Beweise für Manipulationen durch die Demokraten vorgelegt und sämtliche Klagen in der Sache abgeschmettert worden sind.

Auf der anderen Seite suchen jene Demokraten und die Justiz weiter, zu belegen, dass Trump 2016 nur mithilfe russischer Trolle gewinnen konnte. Sie reiben sich auf, um im Kongress aufzuarbeiten, was am 6. Januar 2021 in Washington geschehen ist. Sie klagen an – und laufen gegen Wände.

Auf der organisatorischen Ebene spiegelt sich dieser Trend in zwei Phänomenen wider. Da ist zum Ersten das ständige Erstarken nationaler Milizen und Bürgerwehren. Zum Zweiten zeigt sich die Polarisierung im Narrativ von «denen da oben in Washington», das auf Ebene der Bundesstaaten und Gemeinden immer wieder für Spaltung sorgt, wenn lokale Politiker*innen oder Kandidierende offen gegen Bundesgesetze wettern.

Politischer Stillstand

Bidens Administration wollte viel Geld in die Hand nehmen, um die Herzen der Bevölkerung zu gewinnen. Doch die Demokraten haben ihre hauchdünne Stimmenmehrheit im Senat überschätzt. «Build Back Better» tönt heute nach Hohn, nachdem mit Joe Manchin ausgerechnet ein Demokrat dem Investitionspaket den Todesstoss verpasst hat.

Politische Unkultur: Die damalige Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, zerreisst demonstrativ eine Kopie der State-of-the-Union-Rede, die Donald Trump am 4. Februar 2020 im Kapitol gehalten hat.
Politische Unkultur: Die damalige Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, zerreisst demonstrativ eine Kopie der State-of-the-Union-Rede, die Donald Trump am 4. Februar 2020 im Kapitol gehalten hat.
Bild: Keystone

Nun will sich die Regierungspartei neu auf das Thema Wahlrecht konzentrieren, haben Biden und Co. angekündigt. Die Republikaner haben bereits in einigen Bundesstaaten den Urnengang erschwert, was bei der Linken zu Misstrauen gegenüber dem Wahlsystem führt.

Politische Unkultur II: Der damalige Präsident verweigert Nancy Pelosi am 4. Februar 2020 den Handschlag.
Politische Unkultur II: Der damalige Präsident verweigert Nancy Pelosi am 4. Februar 2020 den Handschlag.
Bild: Keystone

Und ausgerechnet auf diesem Terrain wollen es die Demokraten nun besser machen als bei «Build Back Better»? Also die Partei, die sich nicht dazu durchringen kann, der politischen Gaunerei Filibuster ein Ende zu machen, die Abstimmungen verunmöglicht? Im Ernst?

Der politische Stillstand in Washington wirkt irgendwie unausweichlich. Und die Republikaner tragen ihr Scherflein dazu bei. Aktuelles Beispiel: Ted Cruz hat gerade den Demokraten gedroht: Sollten sie im November die Zwischenwahlen gewinnen, werde er ein Amtsenthebungsverfahren gegen Joe Biden anstrengen. Egal, ob das «gerechtfertigt ist oder nicht».

Düstere Aussichten

Die Linke ist gespalten – wie das Land. Wähler*innenrechte, Frauenrechte, «Black Lives Matter», Klima, Mindestlohn und Parteigenossen wie Joe Manchin: Die Demokraten kämpfen an vielen Fronten, während sich der Gegner hinter Donald Trump sammelt, um Fundamentalopposition zu zelebrieren. Wie kann es da besser werden?

Doch auch die Alternative wirkt nicht gerade einladend. «In dem Moment, in dem die Rechte die Kontrolle über die Institutionen erlangt, werden sie sie benutzen, um die Demokratie in ihren Grundfesten zu Fall zu bringen», warnt der Kanadier Marche. Der Autor meint, dass bereits jetzt viele Behörden von jenen unterwandert seien, die an die Überlegenheit der Weissen glauben.

Im August 2017 treffen beim «Dallas Rally Against White Supremacy» in Texas Welten aufeinander.
Im August 2017 treffen beim «Dallas Rally Against White Supremacy» in Texas Welten aufeinander.
Bild: Keystone

Dazu passt, dass 36 Prozent der US-Soldat*innen in ihrem Arbeitsumfeld bereits mit White-Power-Propaganda konfrontiert wurden. Wenn es um heimischen Terrorismus geht, werden es die USA deshalb schwer haben, sich selbst zu heilen. Was pessimistisch stimmt: Einst wurden nationale Krisenzeiten wie nach den Ermordungen von John F. Kennedy und Martin Luther King oder dem Watergate-Skandal von allen Parteien betrauert.

Proud Boys: Rechtsradikale bei einer Demonstration von Trump-Anhängern am 14. November 2020 in Washington.
Proud Boys: Rechtsradikale bei einer Demonstration von Trump-Anhängern am 14. November 2020 in Washington.
Bild: Keystone

Das ist heute kaum mehr vorstellbar. Einen Kampf will der Autor von «The Next Civil War» nicht ausschliessen: Vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg habe auch niemand gedacht, dass es zu einer langen, blutigen Auseinandersetzung kommen werde, rechtfertigt er sich.

Die Lösung

Tatsächlich muss man sich um die «Demokratische Legitimation» der USA sorgen, die der frühere deutsche Verfassungsrichter Paul Kirchhof so beschreibt:

Das Prinzip der Volkssouveränität fordert, dass politische Herrschaftsgewalt sich vom Volk herleitet, rechtfertigt und die Ordnung des Zusammenlebens in einem Volk auf die Anerkennung derer zurückgeführt wird, die unter dieser Ordnung leben. Insoweit ist die demokratische Ordnung Ausdruck der Freiheit und Selbstbestimmung des Volkes.

Doch noch ist es nicht aller Tage Abend. Was Washington braucht, sind grundlegende Reformen des politischen Systems. Die «Washington Post» berichtet, dass in 20 Jahren die Hälfte der Bevölkerung in acht Bundesstaaten leben wird. Die Folge ist ein Gefälle im föderalen Wahlsystem mit seinen Wahlleuten: 30 Prozent der Wähler*innen werden 2040 über 68 Prozent der Senatssitze bestimmen.

Ländliche Idylle in Brunswick im US-Bundesstaat Maine im Oktober 2021: Der Föderalismus stösst an seine Grenzen, wenn es um die Gewichtung der Wahlstimmen geht.
Ländliche Idylle in Brunswick im US-Bundesstaat Maine im Oktober 2021: Der Föderalismus stösst an seine Grenzen, wenn es um die Gewichtung der Wahlstimmen geht.
Bild: Keystone

Die Gefahr, dass ein*e Präsidentschaftskandidat*in künftig eine glasklare Mehrheit der Stimmen bekommt, wegen der Wahlleute aber dennoch die Abstimmung verliert, ist gross. Aber das ist nicht die einzige Baustelle.

Der Oberste Gerichtshof darf seine Mitglieder nicht mehr nach Parteirichtlinien zugesprochen bekommen, die Filibuster-Regel muss endlich als Kuriosum der Geschichte in ebenjenen Büchern verschwinden. Auftauchen sollte dagegen im besten Fall jemand, der eint. Ein Präsident wie Dwight D. Eisenhower, der das Land versöhnt hat, als es sich in der McCarthy-Ära aufs Bitterste zerstritten hatte.

Der grosse Versöhner: Dwight D. Eisenhower winkt nach seiner Amtseinführung am 20. Januar 1953 im offenen Wagen den Menschen in den Strassen von Washington zu. 
Der grosse Versöhner: Dwight D. Eisenhower winkt nach seiner Amtseinführung am 20. Januar 1953 im offenen Wagen den Menschen in den Strassen von Washington zu. 
Bild: Keystone