Angst in MyanmarAugenzeugen berichten: «Schiessen sie, oder schiessen sie nicht?»
Von Andreas Fischer
13.2.2021
Nach dem Putsch ist die Lage in Myanmar äusserst angespannt. Die Militärjunta wird zunehmend nervöser, weil die Proteste nicht abreissen. «blue News» hat mit einem Aktivisten vor Ort gesprochen.
Jahrzehntelang unter der Fuchtel einer Militärdiktatur, hatte sich Myanmar seit 2011 langsam demokratischen Reformen geöffnet. Alles vorbei, nachdem das Militär am 1. Februar in einem Putsch die Macht wieder an sich gerissen hat? Nicht mit uns, sagen die Menschen. Zehntausende Demonstranten protestieren seit mehr als einer Woche gegen die Militärjunta – obwohl sie um ihr Leben fürchten müssen.
Der Putsch in Myanmar
Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi wurde den Militärs in Mynamar zu mächtig.
In Myanmar hat das Militär in der Nacht zum 1. Februar die Macht an sich gerissen. Es werde ein Jahr lang die Kontrolle im Land übernehmen. Viele hochrangige Politiker einschliesslich De-Facto-Regierungschefin Aung San Suu Kyi wurden festgesetzt. Bei der Parlamentswahl im November 2020 gewann die Partei von Aung San Suu Kyi 396 der 476 Sitze in den zwei Kammern des Parlaments. Die Armeeführung erkannte die Wahl nicht an. Die Machtübernahme ist eine krasse Abkehr von den teilweise bedeutenden Schritten, die Myanmar in den vergangenen Jahren hin zu Demokratie gemacht hat. Zuvor hatte das Militär seit 1962 fünf Jahrzehnte lang in Myanmar geherrscht und das Land international isoliert.
«Natürlich habe ich Angst, alle Menschen hier in Yangon haben Angst. Wir befürchten, dass sich die Situation verschlimmert und wir wieder in die diktatorische Zustände zurückfallen», K. ist ein junger Mann in seinen 20ern und arbeitet in der Kunst- und Kulturszene von Myanmars grösster Stadt Yangon.
Die Ankündigung des Militärs kam am Tag der ersten Parlamentssitzung nach der Wahl im November. Bei der Wahl sei es zu Betrug gekommen, argumentiert das Militär, was die Wahlkommission aber als unbelegt zurückgewiesen hat.
K. will seinen richtigen Namen nicht veröffentlicht haben, auch nicht sein konkretes Alter und seinen Beruf. Nur mit dieser Zusicherung ist er bereit zu reden. Sonst liessen sich Rückschlüsse auf seine Person ziehen – und davor hat er Angst. Trotz dieser Gefahr nimmt er sich Zeit für ein ausführliches Gespräch mit «blue News» und erzählt am Telefon, wie das Leben in dem südostasiatischen Land innerhalb einer Nacht auf den Kopf gestellt wurde.
Das Volk hat genug von der Schikane
«Wir machen uns grosse Sorgen um unsere Zukunft. Wir hatten gerade erst begonnen, Dinge in Gang zu bringen, das Land umzugestalten. Und plötzlich sind unsere mühsam erkämpften Freiheiten wieder weg», beschreibt K. die Wut seiner Generation. Das Volk will nicht schon wieder von der Armee schikaniert werden.
Am ersten Tag protestierten vor allem junge Menschen gegen den Putsch an sich und «die politische Ungeheuerlichkeit, eine gewählte Regierung über Nacht abzusetzen», berichtet K. Die Proteste blieben aber keine Sache der Jugend. «Im Laufe der nächsten Tage kamen immer mehr Leute aus allen Altersgruppen, aus allen sozialen Schichten und allen Ethnien hinzu. Ich bin jeden Tag auf der Strasse und sehe, dass das ganze Land protestiert.»
»Die Generäle sind von den Protesten überrascht»
Die Wucht der Proteste habe die Militärjunta von General Min Aung Hlaing nicht einkalkuliert, glaubt Bert Morsbach. Der deutsche Unternehmer ist seit 1989 regelmässig in Myanmar und hat zehn Jahre später seinen ständigen Wohnsitz in das Land verlegt, dort verschiedene grosse Unternehmen und ein sehr bekanntes Weinbaugebiet aufgebaut.
«Dass das ganze Land gegen den Putsch auf die Strasse geht, damit haben die Generäle nicht gerechnet», ist sich Morsbach im Gespräch mit «blue News» sicher und kann sich vorstellen, «dass dem Militär die Luft ausgeht, weil sie von den massiven Protesten überrascht sind.»
Wie K. ist auch Bert Morsbach vorsichtig, weil er Restriktionen befürchtet. Er werde zwar als Ausländer nicht im Gefängnis landen oder müsse gar um sein Leben fürchten, aber in der Vergangenheit seien kritische Äusserungen von Ausländern gegenüber der Militärregierung bestraft worden.
Seine Worte wägt der Deutsche genau ab: «Ich will unbedingt wieder zurück in meine zweite Heimat.» Zurzeit lebt Morsbach in Mainz, er verbringt die Sommer regelmässig in Europa. Dass er nun nicht zurück kann, liege nicht am Putsch, sondern an den Corona-Beschränkungen: «Ich stehe aber täglich in Kontakt mit meiner Geschäftspartnerin und bin sehr beunruhigt.»
Demokratie unter Vorbehalt
Dem vorsichtigen Demokratisierungsprozess der letzten fünf Jahre, in denen Aung San Suu Kyi das Land als De-facto-Regierungschefin leitete, bescheinigt Morsbach eine durchwachsene Bilanz: «Man spürte jeden Tag, dass die Generäle der Lady auf der Schulter sitzen.» Wichtige Entscheidungen wurden blockiert, weil das Militär automatisch 25 Prozent der Sitze im Parlament bekommt und zudem drei wichtige Ministerien kontrolliert. «Von einer Demokratie kann man da nicht sprechen, eher von einer Demokratur.»
Nach den Wahlen im November 2020 hatte sich Aung San Suu Kyi berechtigte Hoffnungen machen können, einige grundlegende Veränderungen auf den Weg zu bringen. Dass das Militär davor Angst hat, habe einen bestimmten Grund: «Eigentlich geht es immer ums Geld. Die Generäle wollen nahe an den Staatseinnahmen bleiben, um sie unter ihren Leuten verteilen zu können.»
Morsbach glaubt, dass die Generäle gerade zusammensitzen und überlegen, ob sie wieder mit Gewalt an der Macht bleiben, oder ob sie mit hohem Gesichtsverlust eine andere Lösung finden wollen. Die Chancen, dass die Armee die Proteste gewaltsam und mit viel Blutvergiessen beendet, stünden 50:50. «Ich habe keine Hinweise, dass die Generäle klein beigeben, aber es gab anderseits noch nie so intensive Proteste wie dieses Mal», sagt Morsbach und schiebt nach: «Niemand kann wissen, was die Generälen vorhaben. Sie sind unberechenbar.»
Schiessen sie, oder schiessen sie nicht?
Diese Unberechenbarkeit macht auch K. grosse Sorgen. «Wir kennen die Kämpfe unserer Väter», sagt er und befürchtet das Schlimmste. «Wir wissen, was 1988 geschah und haben jeden Tag Angst um unser Leben.» Auch Morsbach weiss, dass die Leute nicht nur Angst haben: «Sie haben Panik. Panik, dass es wieder so wird wie früher. Diese Befürchtungen sind allgegenwärtig – deshalb gehen so viele Menschen auf die Strasse.» In der Hauptstadt Naypyidaw wurde bereits einer jungen Protestierenden in den Kopf geschossen, auch in anderen Städten mehren sich die gewaltsamen Einsätze der Armee.
In Yangon sei es hingegen verhältnismässig ruhig. Doch deswegen kann sich niemand sicher fühlen. Im Gegenteil: «Die Armee kann ihre Strategie von einem Tag auf den anderen ändern», sagt K. «Bei den Protesten heute war zum Beispiel viel weniger Militär und Polizei auf den Strassen Yangons zu sehen als gestern.» Irgendetwas führen die Generäle im Schilde, ist sich der junge Mann sicher. «Schiessen sie oder schiessen sie nicht? Wir wissen alle, was passieren kann und wird, wenn die Armee ihre Agenda rücksichtslos durchsetzt.»
Aufgeben komme aber nicht infrage, dafür stehe zu viel auf dem Spiel. Die Zahl der Protestierenden steige täglich, erzählt K., und die Protestform ändere sich. «Neben zivilem Ungehorsam gibt es viele kleinere Demonstrationen, die sich spezielle Ziele auswählen, um spezielle Botschaften anzubringen. Die Leute sind klüger geworden, haben bessere Strategien, um den Kugeln des Militärs zu entkommen. Sie teilen sich auf.»
Das Militär hingegen wird eine Strategie wie 1988 fahren, glaubt K. Dazu gehörte zum Beispiel, Proteste mit freigelassenen Kriminellen zu unterwandern. Einen Tag nach dem Gespräch wurde bekannt, dass die Militärjunta mehr als 23'000 Gefangene begnadigt hat. Beobachter glauben, dass durch die Aktion Platz für Demonstranten und politische Gegner geschaffen werden soll.
«Myanmar verschwindet wieder von der Landkarte»
«Es wird nicht noch einmal wie 1988 kommen, damals gab es 3000 Tote. Das wird sich nach meiner Meinung nicht wiederholen. Das Militär muss sich heute gegen 90 Prozent der Bevölkerung durchsetzen – und das gelingt ihnen nicht», sagt Bert Morsbach und hofft, dass sich das Volk durchsetzt, noch bevor es zum Blutvergiessen kommt.
Für K. hingegen ist klar: «Wenn die Soldaten anfangen zu schiessen, dann werden noch mehr Menschen auf die Strasse gehen.» Dass die Junta die Macht in einem Jahr wie angekündigt wieder abgibt und Neuwahlen ansetzt, «diesen Bullshit glauben wir nicht. Solche Lügen haben sie immer schon verbreitet.»
Den Menschen in Myanmar bleibe nichts anderes übrig, als auf der Strasse für ihre Zukunft zu kämpfen. K. selbst ist im Prinzip arbeitslos. «Meine Tagesroutine besteht aus Aufstehen, Protestieren, nach Hause kommen.» Niemand mache mehr Geschäfte mit ihm, ausländische Sponsoren sind abgesprungen. Drei Monate könne er noch durchhalten mit seinen Ersparnissen – dann gehen die Lichter ganz aus.
Nach dem Staatsstreich haben ausländische Investoren die Zahlungen eingefroren, die Arbeit in vielen Firmen sei eingestellt worden. «Mein Vater verlor über Nacht seinen Job, viele seiner Freunde ebenso. Und im Kunstbereich gibt es keine Zukunft mehr. Das Land wurde komplett ausgebremst. Myanmar verschwindet gerade wieder von der Landkarte, weil man der Führung des Landes nicht vertrauen kann.»
Die Menschen bleiben wütend
Ohne internationale Handels- und Lieferpartner bleiben nur die «Cronies» übrig, wie die der Militärregierung nahestehende Wirtschaftselite des Landes genannt wird. «Die haben aber gar nicht so viel Geld, wie das Land braucht», bestätigt Morsbach die dramatischen Auswirkungen des Putsches auf die Wirtschaft.
«Das Land wird komplett zurückgeworfen. Myanmar hat jetzt nicht mal mehr Zugang zu den Corona-Impfstoffen und auch sonst keine Mittel, der Pandemie Herr zu werden.» So makaber es klinge: «Wenn das Coronavirus wieder verstärkt ausbricht, dann könnten die Generäle gezwungen sein, das Handtuch zu schmeissen. Das ist ein furchtbarer Ausblick.»
Die Menschen in Myanmar werden wütend bleiben, glaubt K., und resignieren würden sie auf keinen Fall. «Als ich jung war, wurde alles kontrolliert, niemand konnte frei reden. Wir hatten geglaubt, diesen Zustand überwunden zu haben.» Er sei eigentlich ein Künstler, sagt K. zum Abschied. «Aber ich muss politisch sein, weil es immer nötig war in Myanmar.»
Myanmars Hauptstadt Naypidaw – eine Geisterstadt
Nur wenig dringt aus Myanmars Hauptstadt Naypidaw seit dem Militärputsch vom Montag, 1. Februar, nach aussen. Die meisten Bilder zeigen Checkpoints auf der breiten Strasse, die zum Parlament führen.
Bild: AP/Keystone
Wo die abgesetzte Regierungschefin Aung San Suu Kyi und andere führende Politiker festgesetzt wurden, ist nicht bekannt.
Bild: AP Photo/Aung Shine Oo, File
Ohnehin ist Naypidaw ein nebulöser Ort: Das Militär, das fünf Jahrzehnte an der Macht war, hat Naypidaw am Reissbrett entworfen und 2005 zur Hauptstadt erklärt.
Bild: Keystone/AP
Platz gibt es im Überfluss, nur Menschen nicht: Knapp eine Million Bewohner*innen zählt Naypidaw, in der alten Hauptstadt Yangon sind es sieben Millionen. Die fast leeren Strassen sind also ein gewohnter Anblick.
Bild: AP/Keystone
Auch in der Stadt selbst wurde raumgreifend gebaut: So präsentierte sich dem Reporter 2018 der Blick aus dem Hotelzimmer.
Bild: gbi
Hier sieht ein Polizist bei einem besonders prunkvoll dekorierten Verkehrskreisel zum Rechten.
Bild: Keystone/AP
Myanmars Hauptstadt Naypidaw – eine Geisterstadt
Nur wenig dringt aus Myanmars Hauptstadt Naypidaw seit dem Militärputsch vom Montag, 1. Februar, nach aussen. Die meisten Bilder zeigen Checkpoints auf der breiten Strasse, die zum Parlament führen.
Bild: AP/Keystone
Wo die abgesetzte Regierungschefin Aung San Suu Kyi und andere führende Politiker festgesetzt wurden, ist nicht bekannt.
Bild: AP Photo/Aung Shine Oo, File
Ohnehin ist Naypidaw ein nebulöser Ort: Das Militär, das fünf Jahrzehnte an der Macht war, hat Naypidaw am Reissbrett entworfen und 2005 zur Hauptstadt erklärt.
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Platz gibt es im Überfluss, nur Menschen nicht: Knapp eine Million Bewohner*innen zählt Naypidaw, in der alten Hauptstadt Yangon sind es sieben Millionen. Die fast leeren Strassen sind also ein gewohnter Anblick.
Bild: AP/Keystone
Auch in der Stadt selbst wurde raumgreifend gebaut: So präsentierte sich dem Reporter 2018 der Blick aus dem Hotelzimmer.
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Hier sieht ein Polizist bei einem besonders prunkvoll dekorierten Verkehrskreisel zum Rechten.