Ex-Berater klagt an «Boris Johnson dachte, es sei nur eine Gruselgeschichte»

AP/dpa/uri

26.5.2021

Dominic Cummings, ehemaliger Chefberater des britischen Premiers Boris Johnson, erhebt schwere Vorwürfe: Johnson habe die Corona-Pandemie komplett unterschätzt.

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Mit einem Zickzack-Kurs startete die britische Regierung in die Corona-Pandemie. Nun greift der ehemalige Johnson-Berater Cummings seinen ehemaligen Chef scharf an und liefert Hinweise darauf, wie chaotisch es womöglich wirklich war.

Cummings, ehemaliger Vertrauter des britischen Premierministers Boris Johnson, hat am Mittwoch vor einem Parlamentsausschuss mit der Corona-Strategie der Regierung abgerechnet. Die gesamte Regierung sei ihrer Aufgabe nicht nachgekommen und habe die Bevölkerung im Stich gelassen, sagte der einst wichtige Berater des Regierungschefs vor dem Gesundheitsausschuss. Aus diesem Grund seien unnötig Menschen gestorben.

Der ehemalige Johnson-Berater Dominic Cummings bei seiner Aussage vor dem Unterhaus in London. 
Der ehemalige Johnson-Berater Dominic Cummings bei seiner Aussage vor dem Unterhaus in London. 
Bild: Keystone

Cummings beschrieb den Zustand der Regierung Anfang 2020 als chaotisch und nicht einsatzfähig. Minister und ranghohe Beamte seien in den Skiurlaub gefahren, während das Coronavirus sich bereits in Grossbritannien ausgebreitet habe, erklärte der Ex-Berater. Er nahm sich selbst nicht von der Kritik aus. «Die Wahrheit ist, dass Minister, Beamte, Berater wie ich katastrophal hinter den Standards zurückblieben, die die Öffentlichkeit zu Recht von ihrer Regierung in einer solchen Krise verlangt», erklärte er. «Als die Öffentlichkeit uns am meisten gebraucht hat, scheiterte die Regierung.»

«Es war wie eine Szene aus ‹Independence Day›»

Der Ex-Berater sagte: «Im Februar dachte Boris Johnson, es sei nur eine Gruselgeschichte. Er meinte, das sei die neue Schweinegrippe.» Die ganze Regierung habe gewirkt wie in einem Katastrophenfilm. «Es war wie eine Szene aus ‹Independence Day› mit Jeff Goldblum, der sagt: ‹Die Ausserirdischen sind hier und der ganze Plan ist hin.›» Cummings' Aussage wurde live im britischen Fernsehen übertragen.

Weiter behauptete er, Johnson habe gesagt: «Ich werde (den medizinischen Chefberater) Chris Whitty dazu bringen, mir das Coronavirus live im Fernsehen zu injizieren, damit jeder merkt, dass es nichts ist, vor dem er Angst haben muss.»

Laut Cummings hätten britische Behörden Corona-Patienten zudem aus Spitälern zurück in Pflegeheime geschickt, obwohl sie infiziert waren. «Im März (2020) wurde uns eindeutig gesagt, dass die Menschen getestet werden, bevor sie in Pflegeheime zurückkehrten», erklärte er vor den Abgeordneten. Erst nach Wochen hätten Johnson und er herausgefunden, dass das nicht stimmte. «Wir haben sie nicht geschützt, ganz im Gegenteil: Wir haben Leute mit Corona zurück in die Pflegeheime geschickt.»

Lauffeuer in Pflegeheimen riskiert

Die Pflegeheime hätten lange weder über ausreichend Schutzausrüstung verfügt noch über Testmöglichkeiten für Mitarbeiter, so der Ex-Berater. Das habe einen Dominoeffekt erzeugt: Corona-Erkrankte hätten ihrerseits andere Menschen infiziert, «und dann hat es sich wie ein Lauffeuer verbreitet».

In Grossbritannien starben fast 128'000 Menschen an dem Coronavirus, das ist der höchste Wert in ganz Europa. Im Vergleich zu anderen Ländern wurde erst spät ein Lockdown verhängt, der die Wirtschaft in eine tiefe Rezession trieb. Die im Dezember gestartete Impfkampagne hat die Zahl der Neuinfektionen und Todesfälle deutlich reduziert, aber die Regierung räumt ein, dass sie sich kritischen Fragen nach ihrem Umgang mit der Pandemie stellen muss.

Cummings hat wiederholt Verachtung für Beamte, Politiker und Medien geäussert. Als einer der Architekten der erfolgreichen Brexit-Kampagne zum Ausstieg aus der Europäischen Union wurde er 2019 zu einem wichtigen Berater Johnsons ernannt. In die Schlagzeilen geriet er im Mai 2020, als Zeitungen enthüllten, dass er 400 Kilometer quer durchs Land gefahren ist – obwohl er mit dem Coronavirus infiziert war und ein Lockdown galt. Entlassen wollte Johnson ihn dennoch nicht. Der Berater verliess die Regierung im November nach einem Machtkampf im Büro des Premierministers.

Kritiker sehen Cummings auf einem Rachefeldzug 

In den vergangenen Tagen setzte Cummings auf Twitter, um scharfe Kritik an seinem früheren Arbeitgeber zu äussern. Er warf der Regierung Johnsons vor, solange eine sogenannte Herdenimmunität angestrebt zu haben, bis harte Lockdowns und viele Todesfälle nicht mehr zu verhindern gewesen seien. Dabei wird dem Virus erlaubt, sich in der Bevölkerung auszubreiten, während nur Risikogruppen geschützt werden.

Die Regierung bestreitet, jemals eine Herdenimmunität angestrebt zu haben. Kritiker warfen Cummings vor, in seinen Anschuldigen gerne die Tatsache zu übersehen, dass er damals einer der mächtigsten Mitarbeiter der Regierung war. «Ich überlasse es anderen, zu entscheiden, wie verlässlich er als Zeuge ist», sagte Verkehrsminister Grant Shapps. Cummings erklärte, er habe Anfang März 2020 begonnen, Alarm zu schlagen. «Es tut mir schrecklich leid, dass ich das nicht früher getan habe», sagte er.