Putin zittert Bricht nach der Front in Charkiw nun der Widerstand in Cherson?

Von Philipp Dahm

13.9.2022

Selenskyj und Blinken berichten über Geländegewinne

Selenskyj und Blinken berichten über Geländegewinne

Die Ukraine hat nach Angaben von Präsident Selenskyj bei ihrer Gegenoffensive seit Anfang September 6000 Quadratkilometer zuvor russisch besetzter Gebiete zurückerobert. Auch US-Aussenminister Antony Blinken sieht «bedeutende Fortschritte».

13.09.2022

Die schlechten Nachrichten für die russische Armee reissen nicht ab: Im Osten rücken die ukrainischen Streitkräfte weiter vor, im Süden wollen sich Invasoren angeblich ergeben, und dann geht auch noch Hightech verloren.

Von Philipp Dahm

Es dämmert langsam auch den Zurückgebliebenen an der Heimatfront, dass der Krieg in der Ukraine für Moskau nicht läuft – und inzwischen wird das selbst im staatlichen Fernsehen thematisiert. Wenn ein früherer Duma-Abgeordneter wie Boris Nadezhdin offen sagt, «es ist absolut unmöglich die Ukraine zu besiegen», darf man von einer Kehrtwende sprechen.

Auch wenn der 59-Jährige die Schuld an der Misere bei jenen sieht, die den russischen Präsidenten falsch beraten hätten, ist der verbale Rückzug im öffentlichen TV bemerkenswert: Plötzlich fordern prominente Köpfe Friedensverhandlungen mit Kiew. Auch wenn es nach wie vor Gegenstimmen gibt, hat sich der Wind in Moskau gedreht.

Kein Wunder: Die schlechten Nachrichten für die russische Armee reissen nicht ab. Im Osten melden ukrainische Streitkräfte die Einnahme von Swjatohirsk. Die Stadt liegt östlich von Isjum: Die Eroberung erhöht den Druck auf den nahe gelegenen Eisenbahnknotenpunkt Lyman und die Strasse, die in russisch besetztem Gebiet Swatowe und Sjewjerodonezk verbindet. Diese Nachschublinie ist nun hochgradig gefährdet.

Das Fiasko der 1. Gardepanzerarmee

Eine russische Gegenoffensive auf die ukrainische Gegenoffensive ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: Laut dem britischen Geheimdienst hat Moskau die 1. Gardepanzerarmee im Osten positioniert. Es handele sich um eine der «renommiertesten russischen Armeen», die im Falle eines Konflikts mit der Nato an vorderster Front stehen sollte.

Doch diese Einheit hat laut MI6 «schwere Verluste in der ersten Phase des Krieges» mit der Ukraine erlitten, sei anschliessend nicht verstärkt worden und sei derart geschwächt, dass es Russland «wahrscheinlich Jahre kosten wird, diese Kapazitäten wieder aufzubauen». Anstatt zurückzuschlagen, ergeben sich viele von Moskaus Männern in Charkiw und Umgebung lieber, wird immer wieder berichtet.

Ungemach droht Russland auch international, denn da, wo die Kreml-Truppen aufgeben oder sich zurückziehen, rücken auch Ermittler vor, die Kriegsverbrechen untersuchen – wie etwa in Isjum. Dort ist angeblich 80 Prozent der Infrastruktur zerstört worden. Mehr als 1000 Zivilisten sollen hier ums Leben gekommen sein. Nach Angaben aus Kiew dokumentieren Spezialisten in den befreiten Gebieten pro Tag rund 200 Grausamkeiten der Invasoren.

Russen in Cherson verhandeln angeblich über Aufgabe

Und auch dort, wo Moskau militärisch noch die Oberhand hat, finden die Besatzer keinen Frieden. So fühlt sich Sergei Aksjonow offenbar bemüssigt, der Bevölkerung zu drohen: Der Statthalter Russlands auf der Krim warnt, man werde all jene bestrafen, die auf der Halbinsel ukrainische Lieder oder gar die Hymne singen.

In Cherson ist derweil ein Anschlag auf Tetiana Tomilina verübt worden, die der Kreml zur neuen Rektorin der lokalen Universität bestimmt hat. Sie soll bei einem Sprengstoffanschlag schwer verletzt worden sein, während ihr Leibwächter ums Leben gekommen ist, melden ukrainische Quellen.

In Cherson bahnt sich auch das nächste militärische Fiasko an, wenn man entsprechenden ukrainischen Berichten Glauben schenken will. Demnach droht dort die Front zusammenzubrechen, hinter der Tausende Soldaten westlich des Dnjepr eingeschlossen sind. Diese Truppen verhandeln nun angeblich mit der ukrainischen Armee darüber, ihre Waffen niederzulegen.

Moskau verliert seinen besten Aufklärungsbehälter

«Der Grad an Demoralisierung ist so hoch, dass sogar die Kommandeure jetzt einsehen, dass sie nirgendwohin können«, zitiert «The New Voice of Ukraine» Pressesprecherin Natalia Humeniuk. Und als wäre das alles nicht schon fatal genug, muss Wladimir Putin nun auch noch verkraften, dass ein militärisches Geheimnis verloren wurde.

Dabei geht es nicht um die modernisierte Su-30SM Flanker-H, die im Oblast Charkiw nahe Isjum abgeschossen wird, sondern um das, was unter dem Flügel trägt: Russland besten Aufklärungsbehälter. Das System SAP 518-SM Regata ist für die elektronische Kriegsführung konzipiert und kann Radaranlagen und andere Sensoren stören.

Dass westliche Geheimdienste nun herausfinden können, was das System «kann oder nicht kann, ist genau der Grund, warum dieser Fang signifikant ist», staunt «The Drive». Je nachdem, was man aus der Elektronik des Flugzeugs noch herauslesen kann, ist der Erkenntnisgewinn für den Westen potenziell «noch grösser».