Isolation Coronakrise lässt Zahl der US-Drogentoten hochschnellen

AP/phi

24.10.2020

Die Zahl der US-Drogentoten erreicht ein Allzeithoch. Experten machen die Pandemie verantwortlich: Therapien seien unterbrochen und das Angebot gefährlicher. Dabei stecken die USA schon lange in einer Opioid-Krise.

Er ging zur Gruppentherapie, hatte einen Job und liebte seinen kleinen Neffen: Im Kampf gegen die Sucht lief es für Matthew Davidson eigentlich ganz gut. Doch dann kam Corona. Der 31-Jährige verlor seine Arbeit, die Therapiesitzungen fielen aus. Am 25. Mai fand seine Freundin ihn nach einer Überdosis tot zu Hause.

Der Fall Davidson ist nun Teil der Statistik in Kentucky. Der US-Staat verzeichnete im Frühjahr einen Anstieg bei den Drogentoten: Was Tod durch Überdosis betrifft, so war der Mai 2020 dort der verheerendste Monat seit mindestens fünf Jahren. Bis Ende August starben in Kentucky fast so viele Menschen durch eine Überdosis wie im gesamten Jahr 2019.

Und der Kentucky steht nicht alleine da. Zwar sind die US-weiten Daten unvollständig, aber die verfügbaren Zahlen legen nahe, dass die USA bei den Drogentoten auf ein Allzeithoch zusteuern. Die Coronavirus-Pandemie habe Abhängige unter Stress gesetzt, sie in die Isolation getrieben und Therapien und Entzugsprogramme unterbrochen, beklagen Suchtexperten.

Ein Süchtiger legt einen Fentanyl-Teststreifen in die Drogenmischung.
Ein Süchtiger legt einen Fentanyl-Teststreifen in die Drogenmischung.
Bild: Keystone

Ausserdem habe die Pandemie zu einem gefährlicheren Angebot illegaler Drogen beigetragen. Die Nachrichtenagentur «AP» sah Datensätze zu Drogentoten in neun Staaten mit aktuelleren Zahlen ein. Aus Kentucky ebenso wie aus Colorado, Connecticut, Massachusetts, Missouri, New Jersey, Rhode Island, Texas und Washington.

Die meisten Daten erlaubten Vergleiche zu vorherigen Jahren und zeigten, dass die Todesfälle nach einer Überdosis im Frühjahr und Sommer teilweise erheblich höher waren als in den gleichen Monaten 2019.

Brittaney Biggers riecht in La Quinta, Kalifornien, an einem Pullover ihres Bruders, der an einer Überdosis gestorben ist.
Brittaney Biggers riecht in La Quinta, Kalifornien, an einem Pullover ihres Bruders, der an einer Überdosis gestorben ist.
Bild: Keystone

Beispiel Connecticut: Nach vorläufiger Zählung starben bis Ende Juli dieses Jahres bis zu 19 Prozent mehr Abhängige an einer Überdosis als im Vorjahreszeitraum. In Washington lag die Zahl bis Ende August um 9 Prozent höher, in Colorado um 28 Prozent, in Kentucky um 30 Prozent.

Trend nach Rekord weiter steigend

Nun standen die Vereinigten Staaten schon vor Corona mitten in der schlimmsten Drogenkrise ihrer Geschichte. 2019 verbuchten sie den tragischen Rekord von 71'000 Toten durch eine Überdosis. Und der Trend ist steigend. Von April 2019 bis März 2020 zählten die Behörden fast 74'000 Fälle – von April 2018 bis März 2019 waren es 68'000.

Eddie Davis steht in Coalton, Ohio, am Grab seines Sohnes: Auch Jeremy starb an einer Überdosis.
Eddie Davis steht in Coalton, Ohio, am Grab seines Sohnes: Auch Jeremy starb an einer Überdosis.
Bild: Keystone

Dieses Jahr wäre also wohl auch ohne Pandemie schlimm geworden, sagt Dana Quesinberry von der University of Kentucky. Dennoch habe das Coronavirus eine Rolle dabei gespielt, die Krise der Überdosierung zu verschlimmern. Wie genau allerdings, dafür werde jahrelange Forschung nötig sein.

Neben Autopsieberichten deutet noch ein anderes Zeichen auf eine wachsende Zahl an Drogentoten hin. Das Projekt ODMAP wertet Notrufe bei Polizei und Rettungsdiensten wegen mutmasslicher Überdosierung in 49 US-Staaten aus. 62 Prozent aller US-Bezirke, die entsprechende Daten an das Projekt weitergeben, verzeichneten einen Anstieg, nachdem dort Corona-Ausgangsbeschränkungen verhängt wurden.

«Covid-19 hat illegales Drogenangebot verschlimmert»

Landesweit gebe es mehr Drogenkonsum und daher leider auch mehr Überdosen, das zeigten alle Indikatoren an, sagt Jeff Beeson, der stellvertretende Direktor eines Bundesprogramms hinter ODMAP. Zwar liegen noch keine umfassenden Daten dazu vor, welche Substanzen die Drogentoten 2020 nutzten. Allgemein gelten in den USA aber das opioidhaltige Schmerzmittel Fentanyl sowie Crystal Meth als die tödlichsten Drogen.

Angehörige von Drogenopfern demonstrieren im April 2019 vor der Harvard University in Cambridge.
Angehörige von Drogenopfern demonstrieren im April 2019 vor der Harvard University in Cambridge.
Bild: Keystone

Mitte der 1990er-Jahre stieg die Zahl der Drogentoten durch den Missbrauch verschreibungspflichtiger Schmerzmittel an. Nach und nach wendeten sich die Betroffenen günstigeren Drogen auf der Strasse wie Heroin und dem tödlicheren Fentanyl zu. 2015 starben mehr Menschen an Heroin als an verschreibungspflichtigen Schmerzmitteln oder anderen Drogen. 2016 wurden Fentanyl und artverwandte Substanzen zum grössten Killer.

Die Pandemie habe sich auf den Heroin-Schmuggel in die USA ausgewirkt, sagt der auf Überdosierung spezialisierte Professor Mark Tyndall von der University of British Columbia. Der Handel mit Crystal Meth und Fentanyl sei indes gestiegen. «Alles in allem hat Covid-19 das illegale Drogenangebot verschlimmert, es sogar noch tödlicher gemacht», sagt Tyndall. «Das Risiko, sich Gift zu spritzen, ist höher als es vor Covid-19 war.»

«Wenn das [Umfeld] weg ist, kommen die Probleme»

Nicht zu unterschätzen sind die Auswirkungen der Pandemie auf Therapien und Beratungsmöglichkeiten. Mit den Ausgangsbeschränkungen gab es viele Angebote nur noch online – eine Herausforderung für viele Abhängige, da das Gefühl von Verbundenheit ein wichtiger Motivator ist auf dem Weg zum Clean-Sein, wie Robert Pack von der East Tennessee State University erläutert.

Der Verlust des Arbeitsplatzes, Abschottung vom sozialen Umfeld und Depression – in der Pandemie seien Betroffene «von allen Seiten» gefordert. Dieses Schicksal ereilte auch Matthew Davidson in Kentucky. Er starb zwar an einer Fentanyl-Überdosis, aber seine Cousine Melanie Wyatt sieht die Schuld dennoch bei der Pandemie. «Wäre diese Isolation nicht gewesen, wäre vielleicht jemand bei Matthew gewesen. Wahrscheinlich hätte jemand da sein und ihn retten können.»

Die Gruppentherapie sei ihm eine gute Hilfe gewesen, aber die Online-Sitzungen zu Coronazeiten nicht. Für Drogenabhängige im Entzug sei ein gutes, cleanes Umfeld das Wichtigste. «Wenn das weg ist, kommen die Probleme.»

Zurück zur Startseite