EU Das «geheime Brexit-Tagebuch» des Michel Barnier

Von Verena Schmitt-Roschmann, dpa

6.5.2021 - 05:57

24. Dezember 2020: «An diesem Weihnachtsfest bin ich also allein», erinnert sich der Chefunterhändler der Europäischen Union, Michel Barnier, in seinem «geheimen Brexit-Tagebuch».
24. Dezember 2020: «An diesem Weihnachtsfest bin ich also allein», erinnert sich der Chefunterhändler der Europäischen Union, Michel Barnier, in seinem «geheimen Brexit-Tagebuch».
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Mehr als vier Jahre bestimmte der britische EU-Austritt die Tage des französischen Europapolitikers Michel Barnier. Auf mehr als 500 Seiten liefert der EU-Chefunterhändler jetzt seine Sicht der Dinge.

DPA, Von Verena Schmitt-Roschmann, dpa

Heiligabend fiel aus für Michel Barnier. Es war schlicht zu spät für die Reise zu seiner Familie nach Frankreich nach seinem allerletzten Brexit-Deal am Nachmittag des 24. Dezember 2020. «An diesem Weihnachtsfest bin ich also allein», erinnert sich der Chefunterhändler der Europäischen Union. Ungewohnt, nach vier Jahren im Zickzack durch Europa, im Pendelverkehr zwischen Brüssel und London, in unzähligen Konferenzräumen. «An diesem Abend ist mit einem Schlag alle Anspannung weg.»

So schreibt es Barnier in seinem Buch «Die grosse Illusion – Geheimes Tagebuch des Brexits», das an diesem Donnerstag auf Französisch bei Gallimard in Paris erscheint. Der Titel führt etwas in die Irre, denn echte Geheimnisse oder Enthüllungen finden sich kaum in den mehr als 500 Seiten. Dafür ist der ehemalige französische Aussenminister zu sehr Diplomat, dafür hegt er wohl auch noch zu hohe politische Ambitionen in seiner Heimat. Trotzdem liefert der 70-Jährige eine lesenswerte Chronik der irrwitzigen Wendungen in der endlosen Saga um den britischen Austritt aus der EU.

Das Drama um den Brexit-Handelspakt, der an Heiligabend nur sieben Tage vor dem Ausscheiden Grossbritanniens aus dem EU-Binnenmarkt gelang, ist ja noch relativ frisch in Erinnerung. Aber Barnier führt noch einmal vor Augen, wie oft es hakte zwischen Brüssel und London nach dem britischen Austritts-Referendum vom Juni 2016, wie oft es Spitz auf Knopf stand und der gefürchtete «No Deal» drohte, wie oft beide Seiten diplomatische Giftpfeile lancierten, auf stur schalteten und erst im letzten Moment beidrehten.

Die roten Linien von Theresa May

Das alles sieht Barnier natürlich durch die Brüsseler Brille. Minutiös beschreibt er, wie unvorbereitet die britische Politik nach dem Brexit-Referendum war. Wie die frisch ins Amt gekommene Premierministerin Theresa May vor dem Austrittsantrag im Frühjahr 2017 rote Linien zog, wie sie die EU mit einer harten Absage an Binnenmarkt und Zollunion vor den Kopf stiess, wie sie trotzdem die Illusion einer besonders engen Partnerschaft aufrecht erhielt.

Es folgte der Start der Verhandlungen, die hitzigen Debatten um die milliardenschwere Schlussrechnung der Briten und den «Backstop» zur Vermeidung einer harten Grenze zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem britischen Nordirland. Und das war nur der Anfang der Brexit-Dauerschleife. Erst mit May, die sich mit der EU einigte und dann in London keine Mehrheit fand, die um Verlängerungen bitten musste und doch scheiterte. Dann mit Boris Johnson. Der pokerte noch höher, sprach noch öfter vom «No Deal» und schlug doch ganz am Ende ein.

Boris Johnson «wie ein Bulldozer»

May kommt bei Barnier noch relativ gut weg als ehrliche und starke Politikerin unter enormem innenpolitischen Druck, ebenso Mays Chefunterhändler Olly Robbins. Der erste Brexit-Minister David Davies wird dagegen beschrieben als einer, der sich inhaltlich kaum beteiligt, der Sand ins Getriebe streut und nach mühsam erreichten Kompromissen in London auf Distanz geht. Den Brexit-Vorkämpfer Nigel Farage nennt Barnier «süss und herzlich» im persönlichen Umgang, aber politisch verantwortungslos. «Die grosse Illusion» – aus Barniers Sicht haben Brexiteers die Briten systematisch in die Irre geführt.

In diese Kategorie sortiert er auch Johnson. Barnier bescheinigt dem Premier ein Vorgehen «wie ein Bulldozer» und stellt zugleich fest: «Er hat aber in seinem Blick, in seinem Gesichtsausdruck auch etwas Authentisches und Maliziöses. Alles in allem ziemlich sympathisch.»

Auch auf EU-Seite gab es nach Barniers Darstellung Rempeleien, unter anderem mit dem damaligen Generalsekretär der EU-Kommission, Martin Selmayr. Dessen Regiment in der Brüsseler Behörde beschreibt Barnier als «brutal», wenngleich effizient. Immer wieder soll Selmayr versucht haben, in die Brexit-Gespräche einzugreifen. Barnier tut auch wenig, das Gerücht zu entkräften, dass es Selmayr war, der vertrauliche Informationen durchstach und so die Atmosphäre belastete.

Frankreichs nächster Präsident?

Am Ende steht nach Barniers Darstellung aber ein Erfolg der EU, die mit einer verschworenen Truppe brillanter Unterhändler die Nerven behielt und ihre wichtigsten Forderungen durchsetzte. Sich selbst präsentiert er als agilen Netzwerker zwischen den 27 EU-Hauptstädten, als verlässlichen, nüchternen, staatsmännischen Verhandlungsführer.

Barniers Selbstbild passt zu dem Gedankenspiel, 2022 möglicherweise als bürgerlicher Präsidentschaftskandidat in Frankreich anzutreten. Sein Buch schliesst er jedenfalls mit einem Gedanken, der wohl als Lehre aus dem Brexit-Drama zu verstehen ist: «Wir müssen unserem Land zuhören, verstehen, wo es herkommt und auf seine Schwierigkeiten eine Antwort finden.»