Der Ukraine geht die Munition aus Kiew ist mehr denn je auf westliche Waffen angewiesen

Von Philipp Dahm

10.6.2022

Zerstörung im Donbass: «Ich beruhige mich. Dann fange ich wieder an zu weinen»

Zerstörung im Donbass: «Ich beruhige mich. Dann fange ich wieder an zu weinen»

STORY: Dörfer im Osten der Ukraine, zerschossen von russischen Truppen. Zwar war auch über Pfingsten die wichtige Industriestadt Sewerodonezk das Hauptziel der russischen Offensive im Osten der Ukraine. Doch hat auch die Bevölkerung auf dem Land in den Regionen Luhansk und Donezk unter Angriffen zu leiden. «Ich weiss nicht einmal, wo ich anfangen soll. Ich stehe hier und schaue, aber ich habe keine Ahnung, was ich tun soll. Ich fange an zu weinen, ich beruhige mich, und dann fange ich wieder an zu weinen.» Nach Angaben der ukrainischen Polizei wurden am Sonntag in Druschkiwka, etwa 100 Kilometer westlich von Sewerodonezk, eine Person getötet und eine weitere verletzt, nachdem sie von Raketen und Artilleriebeschuss getroffen worden waren. Russland behauptet, es sei auf einer Mission zur «Befreiung» des Donbass, der seit 2014 teilweise von separatistischen und pro-russischen Kräften kontrolliert wird. Nach Angaben des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj finden in Sewerodonezk weiter heftige Strassenkämpfe statt. Die Situation vor Ort ändere sich von Stunde zu Stunde, sagte der Bürgermeister der Stadt im ukrainischen Fernsehen.

10.06.2022

Der Ukraine geht die sowjetisch-russische Munition aus: Kiew stellt sein Arsenal um und ist mehr denn je auf die Hilfe des Westens angewiesen. Doch auch Moskau hat Nachschubprobleme im neuen «Artillerie-Krieg».

Von Philipp Dahm

10.6.2022

Der Kampf um die Ukraine ist zu einem Zermürbungskrieg geworden: An drei Fronten an zwei Flüssen gibt es derzeit kaum Bewegung. Doch ausgerechnet jetzt geht den Verteidigern die Munition aus.

Die Nachrichtenagentur AFP berichtet unter Berufung auf das US-Militär, dass die ukrainischen Vorräte an Material aus sowjetischer und russischer Produktion verbraucht ist. Zuvor haben jene Länder im Westen ihre Arsenale geräumt, die einst zum Warschauer Pakt gehörten, doch auch jene Munition und Ersatzteile, die Kiew von diesen bekommen hat, sind aufgebraucht oder zerstört.

Grounding: Die in der Sowjetunion gebaute Panzerhaubitze 2S3 Akatsiya verschiesst 152-Millimeter-Munition, die der Ukraine nun ausgeht.
Grounding: Die in der Sowjetunion gebaute Panzerhaubitze 2S3 Akatsiya verschiesst 152-Millimeter-Munition, die der Ukraine nun ausgeht.
OSCE Special Monitoring Mission to Ukraine

Das heisst zum einen, dass bestimmtes Kriegsgerät nicht mehr genutzt werden kann – etwa Artilleriegeschütze vom Typ 2A65 Msta-B, die 152-Millimeter-Patronen verschiessen. Die Nato-Staaten nutzen ihrerseits das Kaliber 155 Millimeter und haben der Ukraine auch schon entsprechende Geschütze geliefert.

Dass keine sowjetisch-russischen Produkte mehr vorhanden sind, bedeutet also auch, dass die Ukraine nun vollständig abhängig von westlicher Militärhilfe ist, die die 40-köpfige Kontaktgruppe unter Führung der USA organisiert. «Wir versuchen einen kontinuierlichen Fluss aufrechtzuerhalten», zitiert AFP einen US-Offiziellen.

5000 bis 6000 Artilleriegranaten pro Tag

Die ukrainischen Streitkräfte müssen nun sukzessive auf Nato-Standards umrüsten. Der Fokus liegt derzeit auf grossen Geschützen: «Das ist jetzt ein Artillerie-Krieg», erklärt Vadym Skibitsky dem «Guardian». Der stellvertretende Chef des Militärgeheimdienstes glaubt, dass sich an den aktuellen Fronten die Zukunft seines Landes entscheidet.

«Und was die Artillerie angeht, verlieren wir», sagt Skibitsky: «Auf eine ukrainische Artillerie kommen 10 bis 15 russische Geschütze.» Bisher hätten die Streitkräfte 5000 bis 6000 Artilleriegranaten pro Tag verschossen. Ob sich diese Kadenz halten lässt, muss sich zeigen. Glück im Unglück ist für die Ukraine, dass auch Russlands Reserven sinken.

Skibitsky schätzt, Moskau habe rund 60 Prozent seines Pulvers verschossen und wegen der Sanktionen Mühe, neue Geschosse zu produzieren. Auch die Zahl der Raketenangriffe habe abgenommen – und zuletzt habe der Kreml gar auf sowjetische Modelle wie die H-22 zurückgreifen müssen. «Das zeigt, dass den Russen die Raketen ausgehen», so Skibitsky.

«Es wird schwerer werden, Territorium zurückzugewinnen»

Zum Kriegsverlauf sagt der Geheimdienstler, dass es um Charkiw herum sicherer geworden sei. In der Gegend von Cherson grabe sich der Gegner ein und bilde mehrfache Verteidigungslinien. «Es wird schwerer werden, Territorium zurückzugewinnen», weiss Skibitsky. Auch deshalb brauche die Ukraine mehr Artillerie. Im Donbass werde erbittert gekämpft: Beide Seiten erleiden offenbar hohe Verluste.

Das ist für beide Seiten ein Problem: Russland hat Mühe, mehr Soldaten zu rekrutieren. Die Ukraine hingegen hat genug Freiwillige, aber zu wenig Ausbildner, schreibt der «Economist»: Die Wartezeit für Rekruten betrage derzeit einen Monat. Warten muss Kiew auch auf Mehrfach-Raketenwerfer, die Deutschland schicken will: Ihre Computer müssen erst auf britische und amerikanische Geschosse umprogrammiert werden, was bis zum Winter dauern kann.

Ein britisches MLRS (Multiple Launch Rocket System) nimmt Ende Mai 2022 am Manöver Defender Europe in Lettland teil.
Ein britisches MLRS (Multiple Launch Rocket System) nimmt Ende Mai 2022 am Manöver Defender Europe in Lettland teil.
EPA

Und auch was London und Washington bisher an Artillerie geliefert haben, reicht nicht aus: Präsidentenberater Mychajlo Podoljak sagt der BBC, die Ukraine brauche 150 bis 300 Mehrfach-Raketenwerfer, um zu bestehen.  Er versicherte auch, man werde keine Ziele in Russland damit angreifen.

Das minimale Kriegsziel sei, die Angreifer dorthin zurückzudrängen, wo sie am 24. Februar 2022 standen. Am meisten wäre gewonnen, wenn die vollständige territoriale Integrität seines Landes wiederhergestellt würde. Um etwas zu erreichen, ist Kiew jetzt jedoch mehr denn je auf die Partner im Westen angewiesen.