Die Demonstrationen gegen Rassismus in den USA geben den Teilnehmerinnen und Teilnehmern ein spirituelles Gemeinschaftserlebnis. Eine Pastorin erklärt: «Wenn die Kids sagen, ‹Black Lives Matter!›, ist das ein Gebet.»
Immer wieder ruft die Menge bei ihrem Marsch durch New York die letzten Worte George Floyds: «I can't breathe!» — «Ich kann nicht atmen!» Es ist wie ein kollektives Mantra, das jeden Einzelnen innerlich zutiefst berührt.
«Ich fing an keine Luft zu bekommen und brach zusammen», schildert die 28-jährige Aktivistin und Pfarrerin Kianna Ruff ihre Erfahrung. «Und ich fühlte, dass das eine spiritueller Erfahrung war, die ich nie zuvor erlebt hatte.»
Es gibt Rituale: Demonstrantinnen und Demonstranten knien gemeinsam. Sie halten zum Zeichen der Trauer Schweigeminuten ein. Es gibt Wechselgesänge in Gospel-Tradition: «Was wollen wir?» — «Gerechtigkeit!» Von Los Angeles bis New York, Milwaukee und Minneapolis stehen sie Schulter an Schulter in ihrer gemeinsamen Leidenschaft.
«Ich kann sagen, dass das Liturgie in der Strasse ist», erklärt Jacqueline Lewis, Pastorin der Middle Collegiate Church im New Yorker East Village. «Das ist Kirche auf der Strasse, es ist Gesang auf der Strasse, es ist Wehklage auf der Strasse. Die Tränen sind auf der Strasse. Wenn die Kids sagen, ‹Black Lives Matter!›», ist das ein Gebet.»
Im formalen, traditionellen Sinn sind Amerikaner in den letzten Jahren weniger religiös geworden, insbesondere junge Erwachsene. Das zeigen Erhebungen des Pew-Forschungszentrums. Junge Leute, die den Kern der Demonstrantinnen und Demonstranten bilden, beten demnach eher nicht täglich, gehen nicht zu Gottesdiensten und glauben nicht an Gott.
Glauben ausserhalb der Religion
Und dennoch zeigen Umfragen zugleich, dass jüngere Amerikaner genauso spirituell sind wie Ältere und viele andere Formen gefunden haben, Glauben ausserhalb etablierterer Religionen auszudrücken. In einer Studie des Theologischen Seminars der Harvard-Universität dokumentierten die Forscher eine grosse Bandbreite spiritueller Gemeinschaften junger Menschen von Afro Flow Yoga bis Dinner Churches und öffentlichen Meditationsgruppen. Überschrieb war die Studie mit «How We Gather» — «Wie wir zusammen kommen».
Auch Zukunftsängste treiben viele Menschen an, mit anderen aktiv zu werden. Zehntausende junger Leute in den USA haben 2018 nach Massakern an Schulen gegen Waffengewalt demonstriert — es waren die grössten Proteste seit dem Vietnamkrieg. Und inspiriert von Greta Thunberg sind 2019 Hunderttausende weltweit auf die Strassen gegangen, um entschlossene Massnahmen gegen den Klimawandel zu fordern. In diesem Jahr ist es der Kampf gegen Polizeibrutalität und Rassismus, der Massen mobilisiert.
«All diese Probleme überschneiden sich, weil sie unverhältnismässig viele schwarze Menschen betreffen», sagt die 19-jährige Aalayah Eastmond, die 2018 die Schüsse in der Marjory Stoneman Douglas High School in Parkland, Florida, überlebte. Sie ist nun eine Aktivistin für strengere Schusswaffenkontrollen und organisiert mit der Gruppe Concerned Citizens of D.C. Demonstrationen gegen rassistische Ungerechtigkeit.
Es geht um Nähe und Zusammensein
Die Demonstrationen beginnen mit einem gemeinsamen Gebet, das Nicht-Gläubige einschliesst, erklärt Eastmond. Denn es gehe um Nähe und Zusammensein. «Wir stehen in einem Kreis und jemand betet für uns alle — seid sicher inmitten dieser Proteste, weil sie sehr heftig werden können ... und dass die Leute sich wirklich bestärkt und bewegt fühlen, während sie demonstrieren.»
US-weit tendieren die Kundgebungen dazu, divers in Hinsicht auf Kennzeichen wie Generation, Ethnie und Geschlecht zu sein. Ruff, eine Absolventin des Union Theological Seminary in New York, sagt, das Gemeinschaftsgefühl bestehe trotz dieser Unterschiede. Es gehe darum, «in diesen Gruppen zu sein und diese Energie zu fühlen, dass Gott dich da haben will», erklärt sie. «Und da sind so viele Leute. Ob sie glauben oder nicht, ist nicht, was wichtig ist. Wichtig ist das gemeinsame Ziel.»
Bei einer Demonstration unter dem Motto «Buddhists For Black Lives Matter» in Los Angeles ging Tahil Sharma mit anderen in einer langsamen, wortlosen Prozession, deren Stille eine ähnliche starke Wirkung wie rituelle Sprechchöre bei anderen Demonstrationen hatte. «Dieser Marsch war anders», sagt der 28-jährige interreligiöse Aktivist, dessen Vater Hindu und dessen Mutter eine Sikh ist. «Das emotionale Anschwellen, dass wir mit jeder Sekunde spürten, in der wir atmeten und beteten, war eine Erinnerung an die Sekunden, in denen George Floyd nach Luft schnappte.»
Bei vielen Demonstrationen wurden Tote geehrt, indem deren Namen ähnlich wie in einer Litanei rezitiert wurden. Ein anderes gemeinsames Element ist die Kreation explizit spiritueller Räume — etwa ein Blumenaltar in Minneapolis an der Stelle, an der Floyd starb, oder ein Wandgemälde in Houston, das ihn mit Glorienschein und Flügeln darstellt.
«Interessante Art gelebter Religion»
«Menschen bringen Bilder, Blumen, sie zünden Kerzen an, musizieren und schaffen wirklich einen physischen Ort, an dem sie den Geist eines geliebten Menschen festmachen», sagte Casper ter Kuile, Autor des Buchs «The Power of Ritual: Turning Everyday Activities Into Soulful Practices» («Die Macht des Rituals: Alltagsaktivitäten in seelenvolle Übungen verwandeln»). «Da ist eine wirklich interessante Art gelebter Religion, wie Soziologen das nennen würden, auf den Strassen mit diesen Protesten.»
Sharma, der sich mit konfessionsübergreifender Religion und sozialer Gerechtigkeit seit dem Massaker in einem Sikh-Tempel 2012 in Wisconsin beschäftigt, erklärt: «Wenn ich sehe, dass die gesamte Welt mit mir marschiert, um für die Rechte anderer zu kämpfen, fühle ich, dass ich in einem Gebet bin. Wenn wir die Systeme der Unterdrückung zusammen beenden, unsere Unterschiede für eine gemeinsame Sache eingestehen, dann weiss ich, dass meine Gebete erhört wurden.»