EU-Beitrittskandidat Das VIP-Ticket der Ukraine kommt nicht überall gut an

tafi

17.6.2022

Scholz setzt in Kiew klares Zeichen für EU-Perspektive der Ukraine

Scholz setzt in Kiew klares Zeichen für EU-Perspektive der Ukraine

Die Staats- und Regierungschefs der drei führenden EU-Staaten haben erstmals seit Kriegsbeginn die Ukraine besucht und ein klares Zeichen für eine EU-Beitrittsperspektive des Landes gesetzt. «Deutschland ist für eine positive Entscheidung zugunste

16.06.2022

Dass die Ukraine von der EU eine Vorzugsbehandlung als Beitrittskandidatin bekommt, trifft in Europa nicht überall auf Verständnis. Im «EU-Wartesaal» Westbalkan ist man regelrecht frustriert.

tafi

17.6.2022

Die Ukraine ist nun doch ganz schnell Kandidatin für einen EU-Beitritt geworden. Das galt zu Beginn von Putins Krieg gegen das Land noch als ausgeschlossen. Mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Italiens Ministerpräsident Mario Draghi hatten die drei wirtschaftlich stärksten EU-Länder bei ihrem Besuch in Kiew am Donnerstag eindeutige Signale gesendet, die von der EU-Kommission in Brüssel erhört wurden. 

Die Behörde spricht sich dafür aus, die Ukraine und Moldau offiziell zu Kandidaten für den Beitritt zur Europäischen Union zu ernennen und legt damit die Grundlage für einen möglichen Beschluss der EU-Mitgliedstaaten. Die Staats- und Regierungschefs wollen bereits bei einem Gipfeltreffen Ende kommender Woche über das Thema beraten.

«Die Ukraine gehört zur europäischen Familie», hatte Scholz in Kiew gesagt. Man wolle den Beitrittsstatus der Ukraine zur Europäischen Union «auf jeden Fall» unterstützen, sekundierte Emmanuel Macron. Für den rumänischen Präsidenten Klaus Johannis, der ebenfalls bei dem Treffen anwesend war, sei die EU-Kandidatur Kiews der «Schlüssel zum Aufbau eines starken und dauerhaften Schutzschildes».

Noch nie seit ihrer Unabhängigkeit sei die Ukraine so dicht an die Europäische Union herangerückt, hatte sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bereits gestern in seiner abendlichen Videoansprache über die warmen Worte aus Berlin, Paris, Rom und Bukarest gefreut.

Doch auch wenn sich die drei grössten Wirtschaftsmächte der EU und viele osteuropäische EU-Staaten für einen schnellen Beitritt der Ukraine aussprechen, kann noch eine Menge schiefgehen. Vor allem in den Ländern des Westbalkans, die teils seit Jahren auf einen EU-Beitritt hinarbeiten, aber bislang noch nicht einmal Kandidatenstatus erlangt haben, droht Ungemach. Sicher ist: Im Sprinttempo wird die Ukraine nicht in die EU stürmen.

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Die EU-Kommission in Brüssel hat sich dafür ausgesprochen, der Ukraine den Status als EU-Beitrittskandidaten zu geben. Daran dürften allerdings konkrete Bedingungen geknüpft sein, etwa Fortschritte bei Rechtsstaatlichkeit und im Kampf gegen Korruption.

Dass die Ukraine die Voraussetzungen in absehbarer Zeit erfüllen kann, gilt als unwahrscheinlich. Der Europäische Rechnungshof stellte dem Land noch im vergangenen September ein verheerendes Zeugnis aus: «Obwohl die Ukraine Unterstützung unterschiedlichster Art vonseiten der EU erhält, untergraben Oligarchen und Interessengruppen nach wie vor die Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine und gefährden die Entwicklung des Landes.» Im Korruptionsindex von Transparency International wurde die Ukraine zuletzt auf Rang 122 geführt, eingeklemmt zwischen afrikanischen Staaten und nur unwesentlich besser als Russland bewertet.

Wie geht es nach der Empfehlung der EU-Kommission weiter?

Bereits die nächste Woche könnte entscheidend werden. Donnerstag und Freitag werden die Staats- und Regierungschefs zum EU-Gipfel nach Brüssel kommen und versuchen, eine gemeinsame Haltung zu finden. Eine Einigung ist alles andere als sicher.

Die Positionen der Mitgliedstaaten lagen zuletzt weit auseinander. Staaten wie Polen, Estland, Litauen, Lettland oder Irland dringen seit Wochen darauf, die Ukraine zügig zum EU-Kandidaten zu machen. Skeptisch sind aber etwa Portugal, die Niederlande und Dänemark. Zudem gibt es Länder wie Österreich, die fordern, dass auch Bosnien-Herzegowina den Kandidaten-Status bekommen muss, wenn ihn die Ukraine bekommt.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, werden in naher Zukunft eine Menge zur bereden haben.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, werden in naher Zukunft eine Menge zur bereden haben.
Michael Fischer/dpa

Welche Länder streben noch in die EU?

Bereits Beitrittskandidaten sind neben der Türkei die Balkanländer Albanien, Nordmazedonien, Montenegro und Serbien. Hinzu kommen Bosnien-Herzegowina und der Kosovo als sogenannte potenzielle Kandidaten. Kurz nach der Ukraine hatten sich im März zudem auch Georgien und Moldau beworben. Für diese beiden Länder will die EU-Kommission heute ebenfalls ihre Empfehlung vorlegen.

Welche Bedeutung hätte der Kandidaten-Status für die Ukraine?

Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärt die Annäherung an die EU immer wieder zu einer historischen Frage. Zugleich betont er, dass die Ukraine gegen Russland auch die EU und deren Werte verteidige. Die kalte Schulter der EU wäre für die Moral der kämpfenden Ukrainer ein herber Rückschlag – und ein Glücksfall für Russlands Präsidenten Wladimir Putin.

Wann könnte die Ukraine EU-Mitglied werden?

Das ist nicht sicher. Der Kandidatenstatus sagt über einen Beitritt nicht unbedingt viel aus. Einen Zeitplan gibt es nicht. Beispiel Türkei: Das Land ist seit 1999 EU-Beitrittskandidat und war noch nie so weit von einer Mitgliedschaft entfernt wie heute. Auch Nordmazedonien hat bereits vor 18 Jahren einen Antrag gestellt, gilt mittlerweile als Musterkandidat. Die praktische Aufnahme von Beitrittsverhandlungen ist noch immer nicht erfolgt: Jahrzehntelang im «Wartesaal der EU» ausharren zu müssen, sei «schreiendes Unrecht». Auch die Aufnahme von Gesprächen mit Beitrittskandidat Albanien ist seit zwei Jahren blockiert.

Mit anderen Westbalkanstaaten laufen zwar bereits konkrete Beitrittsverhandlungen, aber auch sie müssen sich gedulden. Mit Serbien verhandelt die EU seit 2014, mit Montenegro sogar noch zwei Jahre länger. Der Beitrittsantrag von Bosnien und Herzegowina liegt seit 2016 in Brüssel vor, das Land hat aber bislang nicht einmal Kandidatenstatus.

Wo droht der grösste EU-Zoff?

Auf dem Balkan ist man ob der bevorzugten Behandlung der Ukraine verärgert. «Es ist eine Unanständigkeit, um nicht zu sagen: Schamlosigkeit, wie die EU das neue Wunderkind Ukraine nun auf die vordere Bühne schiebt», zitiert «Der Spiegel» das Umfeld des serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić. In den letzten 20 Jahren habe es gegenüber den Balkanländern «jede Menge böse Fouls» gegeben.

Österreichs Kanzler Nehammer fordert: «Wir müssen sicherstellen, dass dieselben Massstäbe angewandt werden wie auch bei anderen Beitrittsbewerbern aus dem Westbalkan. Vor diesem Hintergrund wäre es für mich etwa nicht vorstellbar, der Ukraine einen Kandidatenstatus zu gewähren und zugleich Länder wie Bosnien-Herzegowina weiterhin aussen vor zu halten», sagte Nehammer der «Welt». «Es darf keine Doppelstandards oder gar Beitrittsbewerber erster und zweiter Klasse geben», sagte er.

Mit Material der Nachrichtenagentur dpa.