NamibiaDeutschland erkennt Kolonialverbrechen als Völkermord an
Von Michael Fischer, Ralf Krüger und Frauke Röschlau, dpa
29.5.2021 - 14:24
Deutschland will sich mit einer seiner früheren Kolonien – dem heutigen Namibia – aussöhnen. Es geht um ein Schuldeingeständnis, eine Bitte um Vergebung – und um einen Milliardenbetrag.
Von Michael Fischer, Ralf Krüger und Frauke Röschlau, dpa
29.05.2021, 14:24
29.05.2021, 14:28
dpa
Mehr als 100 Jahre nach den Verbrechen der deutschen Kolonialmacht im heutigen Namibia erkennt die Bundesregierung die Gräueltaten an den Volksgruppen der Herero und Nama als Völkermord an.
Die Nachkommen will Deutschland offiziell um Vergebung bitten und in den kommenden 30 Jahren mit 1,1 Milliarden Euro unterstützen. Darauf haben sich nach fast sechs Jahren Verhandlungen beide Regierungen verständigt.
Aussenminister Heiko Maas sagte am Freitag in Berlin: «Ich bin froh und dankbar, dass es gelungen ist, mit Namibia eine Einigung über einen gemeinsamen Umgang mit dem dunkelsten Kapitel unserer gemeinsamen Geschichte zu erzielen.» Von dort gab es zunächst keine offizielle Reaktion. Präsident Hage Geingob befindet sich nach einem Positivtest auf das Corona-Virus derzeit in Isolation.
Vernichtungskrieg mit Zehntausenden Toten
Das Deutsche Reich war von 1884 bis 1915 Kolonialmacht im heutigen Namibia und schlug Aufstände brutal nieder. Während des Herero-und-Nama-Kriegs von 1904 bis 1908 kam es zu einem Massenmord, der als erster Genozid im 20. Jahrhundert gilt. Historiker schätzen, dass 65.000 von 80’000 Herero und mindestens 10’000 von 20’000 Nama getötet wurden. Seit 2015 verwendet das Auswärtige Amt dafür den Begriff Völkermord in seinem allgemeinen Sprachgebrauch. Jetzt werden die Gräueltaten auch offiziell als Völkermord bezeichnet.
Anfang des 20. Jahrhunderts gab es diesen juristischen Begriff noch gar nicht. Erst 1948 beschloss die UN-Generalversammlung als Konsequenz aus dem Holocaust die «Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes» und machte Völkermord damit zum Straftatbestand. Die Konvention gilt aber nicht rückwirkend. Deswegen ergeben sich für Deutschland aus der Anerkennung des Völkermords auch keine rechtlichen Konsequenzen.
Eine Milliarde als «Geste der Anerkennung des unermesslichen Leids»
Die Bundesregierung hat immer wieder betont, dass es aus ihrer Sicht keinen Rechtsanspruch auf Entschädigung gebe. Dass sie nun trotzdem 1,1 Milliarden Euro locker macht, sieht sie als politisch-moralische Verpflichtung. Maas sprach von einer «Geste der Anerkennung des unermesslichen Leids, das den Opfern zugefügt wurde». Das Geld soll über 30 Jahre vor allem in Projekte in den Siedlungsgebieten der Herero und Nama fliessen wie Landwirtschaft, Wasserversorgung und Berufsbildung.
Bitte um Vergebung – aber kein Schlussstrich
Drittes Kernelement der gemeinsamen Erklärung, die in den nächsten Wochen feierlich unterzeichnet werden soll, ist die Bitte um Vergebung. Berichten zufolge soll sie durch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Parlament von Namibia ausgesprochen werden. Offiziell angekündigt wurde das noch nicht. Maas sagte: «Unser Ziel war und ist, einen gemeinsamen Weg zu echter Versöhnung im Angedenken der Opfer zu finden.» Die Vereinbarung bedeute jedoch keinen Schlussstrich unter die Vergangenheit.
Nicht alle sind zufrieden
Die Verhandlungen wurden von Beauftragten der beiden Regierungen geführt, die Herero und Nama waren aber eng eingebunden. Bei einigen Vertretern der Volksgruppen hatten erste Hinweise auf das Abkommen jedoch bereits Kritik ausgelöst. Es sei nichts weiter als ein PR-Coup Deutschlands und Betrug der namibischen Regierung, so die Ovaherero Traditional Authority und Nama Traditional Leaders Association. Der in Berlin lebende Herero-Aktivist Israel Kaunatjike sprach von einem «Verrat an meinen Vorfahren». «Wir fordern eine legale Anerkennung des Genozids, eine aufrichtige Entschuldigung und echte und angemessene Reparationszahlungen.»
Die Ovaherero Traditional Authority ist nur eine von vielen Herero-Gruppen. Acht davon sind offiziell von der Regierung anerkannt und in der namibischen Verhandlungsdelegation vertreten. Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) forderte, alle Herero- und Nama-Verbände einzubeziehen. Auch die Verbrechen des deutschen Kaiserreiches im heutigen Kamerun, Togo, in Tansania, im chinesischen Qingdao und auf Pazifikinseln warteten noch auf Aufarbeitung.
Jahrelange Verhandlungen
Deutschland hatte sich ab 1884 Kolonien in Afrika, Ozeanien und Ostasien angeeignet. Es verfügte über das viertgrösste koloniale Gebiet. Die gewaltvolle Herrschaft führte zu Aufständen und Kriegen. Mit der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg wurden die Kolonien dann unter den Siegermächten aufgeteilt.
Die jetzt abgeschlossenen Verhandlungen hingen lange Zeit an der heiklen Frage einer finanziellen Entschädigung. Über lange Strecken muteten sie wie ein Gezerre um Bedingungen und Umstände für die längst überfällige Entschuldigungsgeste Deutschlands an.
Die Bundesregierung habe einer «bedingungslosen Entschuldigung» an die namibische Regierung, ihr Volk und die betroffenen Gemeinden zugestimmt, wolle aber nicht den Begriff «Reparationen» benutzen, hatte Namibias Präsident Geingob noch im August geklagt. Auch der Begriff «Heilung der Wunden» wurde als unzureichend abgelehnt.
Aus deutscher Sicht war es wichtig, noch vor der Bundestagswahl zu einer Einigung zu kommen. Auch die beiden Parlamente sollen noch zustimmen.