Deutschland gerät wegen Migrationspolitik in Brüssel unter Druck

SDA

26.9.2023 - 05:22

Das Europaparlament hat eine Blockade von Verhandlungen über die geplante Reform des EU-Asylsystems angekündigt. Foto: Virginia Mayo/AP/dpa
Das Europaparlament hat eine Blockade von Verhandlungen über die geplante Reform des EU-Asylsystems angekündigt. Foto: Virginia Mayo/AP/dpa
Keystone

Die Bundesregierung gerät wegen ihrer Ablehnung von Vorschlägen zur geplanten Reform des EU-Asylsystems zunehmend unter Druck europäischer Partner. Die Position Berlins sei massgeblich dafür verantwortlich, dass notwendige Verhandlungen mit dem Europaparlament derzeit blockiert seien, sagten mehrere Diplomaten und EU-Beamte der Deutschen Presse-Agentur vor einem Innenministertreffen an diesem Donnerstag. Wenn es eine Chance geben solle, die Asylreform noch vor der Europawahl zu beschliessen, müsse sich die Bundesregierung bewegen und dem Vorschlag für die sogenannte Krisenverordnung zustimmen.

In dem Streit geht es konkret darum, dass die Regierung aus SPD, Grünen und FDP im Juli einen Vorschlag der spanischen EU-Ratspräsidentschaft für die Krisenverordnung nicht unterstützen wollte und sich die EU-Staaten deswegen nicht für Verhandlungen mit dem Europaparlament positionieren konnten. Berlin begründete dies in Brüssel insbesondere damit, dass EU-Staaten über die Verordnung bei einem besonders starken Zustrom von Migranten die Möglichkeit bekommen würden, die Schutzstandards für diese Menschen in inakzeptabler Weise abzusenken.

So soll etwa in Krisensituationen der Zeitraum verlängert werden können, in denen Menschen unter haftähnlichen Bedingungen festgehalten werden können. Zudem könnte der Kreis der Menschen vergrössert werden, der für die geplanten strengen Grenzverfahren infrage kommt.

Parlament macht Druck mit Blockade

Aus Ärger über den Stillstand hatte das Europaparlament in der vergangenen Woche angekündigt, andere Teile der Verhandlungen über die geplante Asylreform bis auf Weiteres zu blockieren. Brisant sind die Verzögerungen vor allem wegen der nahenden Europawahl im Juni 2024. Projekte, die bis dahin nicht mit den Regierungen der Mitgliedstaaten ausgehandelt sind, könnten anschliessend wieder infrage gestellt werden und sich lange verzögern.

Im Fall der geplanten Reform des Asylsystems wäre dies ein besonders grosser Rückschlag. An dem Projekt wird bereits seit Jahren gearbeitet. Es soll auch dazu beitragen, die illegale Migration zu begrenzen und dürfte deswegen auch bei anstehenden Wahlen in den Mitgliedstaaten und der Europawahl eine Rolle spielen. Vor allem rechte Parteien wie die AfD werfen der EU seit langem Versagen im Kampf gegen illegale Migration vor.

Platzt das ganze Asyl-Paket?

Eine schnelle Einigung in dem Streit ist nicht in Sicht. Ein Diplomat sagte der dpa, südliche EU-Staaten hätten andere Teile der geplanten Reform nur akzeptiert, weil sie sich sicher gewesen seien, im Gegenzug in Krisensituationen mehr Flexibilität zu bekommen. Wenn dies nun in Frage gestellt werde, könne das ganze Paket platzen.

Zu diesem gehört neben den Regeln für Krisensituationen, dass Erstaufnahmestaaten Asylanträge von Migranten aus Herkunftsländern mit einer Anerkennungsquote von weniger als 20 Prozent in Zukunft innerhalb von zwölf Wochen prüfen sollen. In dieser Zeit will man die Schutzsuchenden verpflichten, in streng kontrollierten Aufnahmeeinrichtungen zu bleiben. Wer keine Chance auf Asyl hat, soll umgehend zurückgeschickt werden.

Äusserungen von Baerbock sorgen für Diskussionen

Unverständnis über die deutsche Positionierung gibt es insbesondere, weil die Standardregeln dem aktuellen Vorschlag zufolge gar nicht automatisch, sondern erst nach Zustimmung des Rates der Mitgliedstaaten und unter strenger Aufsicht der EU-Kommission aufgeweicht werden dürften. Es blieben demnach auch in einer Krisensituation noch etliche Kontrollmöglichkeiten, um Missbrauch zu verhindern.

Als mögliches politisches Manöver vor den Landtagswahlen in Bayern und Hessen wird deswegen auch gesehen, dass die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock die Haltung der Bundesregierung am Wochenende überraschenderweise nicht mehr mit Menschenrechtsbedenken, sondern mit der Gefahr eines noch grösseren Zustroms von Migranten nach Deutschland erklärte.

So hatte die Grünen-Politikerin am Wochenende ohne Erklärungen im Kurznachrichtendienst X geschrieben: «Statt geordneter Verfahren würde insbesondere das grosse Ermessen, dass die aktuelle Krisenverordnung für den Krisenfall einräumt, de facto wieder Anreize für eine Weiterleitung grosser Zahlen unregistrierter Flüchtlinge nach Deutschland setzen.»

Zudem kritisierte sie, eine zusätzliche Krisenverordnung «nachzuschieben», drohe neue geordnete Verfahren «durch die Hintertür» kaputt zu machen – obwohl der grundlegende Vorschlag der EU-Kommission dazu bereits seit September 2020 auf dem Tisch liegt.

Qualifizierte Mehrheit ohne Deutschland?

Mit Spannung wird nun erwartet, ob der Unmut über die Bundesregierung beim Innenministertreffen auch vor laufenden Kameras geäussert wird und ob dies dann möglicherweise zu neuen Diskussionen innerhalb der Koalition führt. Als entscheidend für die bislang unnachgiebige Positionierung gelten die Grünen, die schon mit den im Juni vereinbarten Plänen für eine Verschärfung der regulären Asylverfahren Dinge akzeptierten, die sie eigentlich nicht akzeptieren wollten.

Für Deutschland wird zu den EU-Beratungen in Brüssel Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) erwartet, die derzeit auch Spitzenkandidatin für die hessische SPD bei der Landtagswahl am 8. Oktober ist. Sie hat sich öffentlich bislang nicht zu möglichen Kompromissen geäussert.

Die vielleicht einzige gesichtswahrende Lösung für die Bundesregierung wäre es, wenn die spanische EU-Ratspräsidentschaft doch noch ohne Deutschland die notwendige qualifizierte Mehrheit für die Krisenverordnung organisieren könnte. Dass dies gelingt, galt zuletzt allerdings als äusserst unwahrscheinlich, weil die anderen Gegner den spanischen Vorschlag für zu schwach halten und sich noch mehr Freiheiten bei einem Massenzustrom von Migranten wünschen würden. Dazu gehören Polen, Ungarn, Österreich und Tschechien.

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