Eskalation mit AnsageDie Krawalle in Nordirland könnten erst der Anfang sein
tafi mit Material von dpa und AFP
11.4.2021
In Nordirland entzündet sich ein Konflikt neu, der eigentlich überwunden schien. Der relative Frieden zwischen Katholiken und Protestanten wird nach 23 Jahren wird beinahe mutwillig aufs Spiel gesetzt.
11.04.2021, 12:21
tafi mit Material von dpa und AFP
Molotow-Cocktails, brennende Autos, verletzte Polizisten: Die schlimmen Bilder aus Belfast dieser Tage erinnern an den drei Jahrzehnte dauernden blutigen Bürgerkrieg, der seit dem Karfreitags-Abkommen von 1998 eigentlich beendet schien.
Eigentlich – denn ganz verheilt sind die alten Wunden der Kämpfe zwischen den überwiegend protestantischen Unionisten und den mehrheitlich katholischen Nationalisten nie. 3500 Menschen kamen dabei ums Leben. Noch immer steht zwischen den Vierteln der ehemaligen Konfliktparteien eine «Friedensmauer» – ein drei Meter hohes Monument des Misstrauens aus Beton, Blech und Gittern.
Die Spannungen waren und trotz Friedensabkommen allgegenwärtig, sowohl im politischen Tagesgeschäft als auch im Alltag. Schulen, Kindergärten, Pubs – man bleibt in Nordirland lieber unter sich. Auf beiden Seiten gibt es noch immer militante Gruppierungen, die das Gewaltmonopol des Staates nicht anerkennen und nicht davor zurückschrecken, Menschen die ihrer Ansicht nach gegen die Regeln verstossen, beispielsweise mit Schüssen in die Kniekehle (Kneecapping) zu verstümmeln oder gar zu ermorden.
«Die Situation ist sehr instabil»
Wie brüchig der Frieden war, zeigt sich seit vergangener Woche: Nordirland erlebt die schlimmsten Unruhen seit Jahren. Sie gehen hauptsächlich von pro-britischen Unionisten aus, die über die Folgen des Brexit verärgert sind. Zuletzt wurden die Polizisten jedoch auch von pro-irischen Nationalisten angegriffen.
Experten befürchten nun, dass sich die Gewalt weiter zuspitzt. «Die Situation ist sehr instabil im Moment, und Spannungen erhöhen sich», sagte die Konfliktforscherin Katy Hayward von der Queen's University Belfast.
Obwohl es vor allem junge Menschen sind, die sich kaum an die Zeit erinnern dürften, sind die Konfliktlinien noch immer die alten bei den Ausschreitungen in Belfast und Londonderry, das von Katholiken nur Derry genannt wird. Auf der einen Seite stehen die überwiegend protestantischen Unionisten, die um jeden Preis an der Zugehörigkeit Nordirlands zum Vereinigten Königreich festhalten wollen. Auf der anderen Seite stehen die vorwiegend katholischen Befürworter eines gesamtirischen Nationalstaats durch eine Vereinigung Nordirlands mit der Republik Irland im Süden, auch Nationalisten genannt.
Trauerfeier und Brexit lassen den Konflikt eskalieren
Ausgelöst wurden die Unruhen durch eine Entscheidung der Strafverfolgungsbehörden, hochrangige katholische Politiker nach der Teilnahme an einer Beerdigung eines ehemaligen Mitglieds der Terrorbewegung IRA nicht wegen Verstössen gegen die Corona-Regeln zu belangen. 1500 Menschen hatten an einem Trauerzug teilgenommen. Normalerweise sind höchsten 50 erlaubt.
Doch das Problem liegt tiefer. Die entscheidende Rolle spielen die Regelungen des Brexit-Abkommens, wonach Nordirland de facto im Handelsraum der EU verbleibt. Dieses sogenannte Nordirland-Protokoll, durchgesetzt von Boris Johnson, soll eine harte Grenze zwischen Nordirland und Irland verhindern: Die offene Grenze gilt als eine Säule des Friedensprozesses, der auf dem Karfreitagsabkommen von 1998 beruht.
Stattdessen müssen Waren nun jedoch zwischen Nordirland und dem restlichen Grossbritannien kontrolliert werden. Die Unionisten fühlen sich dadurch vom Rest des Vereinigten Königreichs abgekoppelt.
«Ohne den Brexit wären wir nicht in dieser Situation»
«Bei dem zerbrechlichen Friedensprozess in Nordirland geht es immer darum, beide Seiten vorsichtig auszubalancieren», sagt Katy Hayward, die seit Jahren dazu forscht. Was also hat diese Balance aus dem Gleichgewicht gebracht? «Ohne den Brexit wären wir nicht in dieser Situation», ist sich Hayward sicher.
Schon vor drei Jahren hatte der ehemalige britische Premierminister Tony Blair gewarnt: «Das Karfreitagsabkommen muss den Brexit überleben und sollte den Brexit überleben, aber es ist eine Komplikation».
Während die EU und Grossbritannien noch – flankiert von Ärger über Alleingänge und Provokationen – daran arbeiten, dass Nordirland-Protokoll in die Realität umzusetzen, reichen schon die ersten Kontrollen und Handelsbarrieren aus, um vor Ort die Wogen in die Höhe zu treiben. Derzeit gelten etwa für Supermärkte noch Übergangsregeln, mittelfristig stehen jedoch weitere Kontrollen und Formalitäten an.
Für die wirkliche wichtigen Dinge scheint dabei keine Zeit zu bleiben: «Am Frieden muss konstant gearbeitet werden, man sollte ihn nie als garantiert betrachten», wünschte sich Tony Blair 2018 ziemlich prophetisch.