Ablenkungsmanöver? Die Saudis schicken eine Frau ins All – und ganz viele ins Gefängnis

Von Philipp Dahm

14.2.2023

Die saudischen Astronauten sollen mit einer Rakete vom Typ Falcon 9 und einer SpaceX-Dragon-Kapsel ins All geschossen werden. Hier hebt eine solche Rakete im September 2021 in Cape Canaveral in Florida ab.
Die saudischen Astronauten sollen mit einer Rakete vom Typ Falcon 9 und einer SpaceX-Dragon-Kapsel ins All geschossen werden. Hier hebt eine solche Rakete im September 2021 in Cape Canaveral in Florida ab.
AP

Saudi-Arabien will mit Rayyana Barnawi eine muslimische Astronautin in den Weltraum schiessen. Während die einen das als Meilenstein bejubeln, wissen andere, dass das Regime nur Makulatur betreibt.

Von Philipp Dahm

14.2.2023

Saudi-Arabien will die erste arabische Astronautin ins All schicken: Sie heisst Rayyana Barnawi, ist 33 Jahre alt, hat in Neuseeland und ihrer Heimat Biomedizin studiert und forscht seit neun Jahren an einer Stammzellen-Therapie gegen Krebs.

Barnawi soll zusammen mit Ali Alqarni ins Weltall fliegen. Der 31-Jährige ist seit zwölf Jahren F-15-Pilot bei der saudischen Luftwaffe. Das private Raumfahrtunternehmen Axiom Space aus Houston, Texas, soll das Duo zur Internationalen Raumstation ISS bringen.

Schirmherr des All-Ausflugs ist die Saudi Space Commission, die erst 2018 per Dekret gegründet worden ist und 2,1 Milliarden Dollar in die Weltraum-Forschung investieren will. Die neu gegründete Behörde ist Teil der Vision 2030, die das Land modernisieren soll.

Image-Politur

Barnawi wird zwar die erste muslimische Astronautin im All sein, aber nicht die erste muslimische Frau: Privat ist die Amerikanerin Anousheh Ansari bereits 2006 in den Weltraum geflogen. Das saudische Duo soll zehn Tage auf der ISS verbringen, bevor es die Rückreise zur Erde antritt.

Das saudische Königshaus will mit der Vision 2030 und dem Raumflug der Astronautin sein ultra-konservatives Image aufbessern, hält die «Times of Israel» fest. Oberflächlich passt das Vorhaben ins Bild: Riad hat die strenge Geschlechtertrennung gelockert, das System des männlichen Beschützers abgeschafft, ohne den sich Frauen nicht frei bewegen konnten, und diverse Berufe für weibliche Aspiranten geöffnet.

«Die Änderungen, die König Salman und insbesondere der Kronprinz durchgeführt haben, haben uns alle umgehauen», sagt die IT-Beraterin Fatimah Almathami dem australischen Sender ABC. «Alles ging so schnell.» In ihrer IT-Branche gebe es heute zum Beispiel mehr Studentinnen als Studenten.

Diverses Denken?

Im Gegensatz zu früher finde man heute ab fast jedem Arbeitsplatz auch weibliche Angestellte. «Es geht dabei nicht nur um die Einbeziehung von Frauen, sondern auch darum, in allen Bereichen divers zu denken», meint Almathami. Der neue Kurs habe viel im Land verändert – «in der Politik, im Tourismus, Sport und jedem anderen Feld».

Ins selbe Horn stösst Sara Mokhtar, die von 2008 bis 2016 in Melbourne ihren Doktor der Pathologie gemacht hat. In Australien entdeckte sie auch ihre Liebe zum Karate: In ihrer Heimat konnte sie zuvor kein Dojo besuchen. Nach ihrer Rückkehr nach Saudi-Arabien hat sie das geändert.

«Ich musste tatsächlich die Leute – und insbeondere Frauen – davon überzeugen, dass Kampfsport deiner Weiblichkeit nichts anhaben kann», erklärt Mokhtar. 2021 hat sie nach den Reformen ihr eigenes Dojo eröffnet. Inzwischen ist sie Vize-Dekanin am Medizinischen Institut der König-Abdulaziz-Universität in Dschidda. Doch andere Stimmen sehen Riads Reformen kritisch.

34 Jahre Haft wegen Re-Tweets

«Saudi-Arabien hat eine der schlimmsten Phasen von Repressionen in der Geschichte des Landes erlebt», relativiert Joey Shea von Human Rights Watch die Fortschritte. Diese sollen «Aufmerksamkeit ablenken von der fortgesetzten, brutalen Verfolgung von Aktivisten und Menschenrechtsvertretern sowie anderen ungeheuerlichen Menschenrechtsverletzungen», mahnt Reina Wehbi von Amnesty International.

Beispiel gefällig? Erst im August 2022 ist eine Aktivistin zu satten 34 Jahren Haft verurteilt worden. Das Vergehen von Salma al-Shehab: Die Britin hat im Dezember 2020 Twitter-Beiträge weiterverbreitet, in denen Reformen eingefordert wurden. Die schiitische Mutter zweier Kinder wurde im Januar 2021 in ihren Ferien in Saudi-Arabien verhaftet, 285 Tage ohne Anklage festgehalten und mit einem Ausreiseverbot belegt, wenn sie freikommt.

Die drakonische Bestrafung von Salma al-Shehab ist beileibe kein Einzelfall. Während Mohammad bin Salman (MBS) nach aussen gern den freundlichen Reformer spielt, schlägt der Kronprinz im Inneren brutal zu. Seitdem der De-facto-Führer das Zepter in Saudi-Arabien übernommen hat, hat sich die Zahl der Exekutionen verdoppelt.

«Der Westen belügt sich»

Allein am 12. März 2022 liess MBS 81 Männer hinrichten. Zwischen 2015 und 2022 lag der Jahresdurchschnitt bei 129 Exekutionen, berichtet der «Guardian»: Das sind 832 Prozent mehr als im Zeitraum zwischen 2010 und 2014. Von den 147 Tötungen im Jahr 2022 hatten 90 nichts mit Gewalt zu tun.

«Die Todesstrafe wird routinemässig für nicht-tödliche Vergehen angewendet, und um Dissidenten und Demonstranten zum Schweigen zu bringen», kritisiert die European Saudi Organisation for Human Rights and Reprieve und mahnt, unfaire Verfahren und Folter seien an der Tagesordnung.

«Der Westen belügt sich wegen der Freiheiten von Frauen in Saudi-Arabien selbst», moniert im vergangenen August dann auch die «New York Times». Die Reformen würden nur jenen nützen, die in liberalen Familien leben. «Doch für die vielen saudischen Frauen, die keinen wohlwollenden männlichen Beschützer haben, gibt es keine Rettung.»

Wenn die Männer es nicht wollten, könnten die Frauen auch nicht Auto fahren – trotz Lockerung der entsprechenden Vorschriften. Und so mag der Raumflug von Rayyana Barnawi mit Blick auf die Emanzipation vielleicht ein Anfang sein. Doch er ist noch lange nicht das Ende.